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Große Siege über die eigene Angst

WÜRDE Niemand weiß, was aus den Aufständen entsteht. Doch eines ist sicher: Keine Repression der Welt kann die befreiende Wucht des arabischen Frühlings aufhalten

Unschuld und Würde

  Der Autor: Tahar Ben Jelloun weiß, wovon er spricht. Geboren wurde er 1944 in Fès. Wegen des Verdachts, eine Demonstration organisiert zu haben, wurde er 1965 in einem marokkanischen Straflager inhaftiert. Erst 1968 konnte er sein Studium wieder aufnehmen. 1971 ging er nach Paris. Für seinen Roman „Die Nacht der Unschuld“ erhielt er 1987 den Prix Goncourt. Weitere große Erfolge, auch in Deutschland, folgten. Weltweit bekannt wurde das Gesprächsbuch „Papa, was ist ein Fremder?“, in dem er sich mit seiner Tochter über Rassismus unterhält.

  Der Text: Wir entnehmen diesen Essay Tahar Ben Jellouns Buch „Arabischer Frühling. Vom Wiedererlangen der arabischen Würde“. Es erscheint am 16. April im Berlin Verlag, hat 128 Seiten und kostet 10 Euro. Die Übersetzerin ist Christiane Kayser.

VON TAHAR BEN JELLOUN

In Debatten im Fernsehen oder im Rundfunk wird oft „das Schweigen der arabischen Intellektuellen“ bedauert. Doch seit die arabische Welt in ihrer Vielfalt und Komplexität unter mehr oder weniger unverhohlen diktatorischen Regimen leidet (also seit etwa einem halben Jahrhundert), sind die Intellektuellen nie verstummt und haben sich auch nicht damit abgefunden, verachtet und gedemütigt zu werden.

Viele haben für ihr Engagement mit jahrelanger Haft samt Folter und jeder Form sadistisch motivierten Entzugs bezahlt. Es gibt eine lange Liste von mutigen Menschen, die die Verteidigung der Menschenrechte mit dem Tod bezahlt haben. Ihr einziges Verbrechen besteht darin, Gerechtigkeit und Freiheit für die arabischen Bürger gefordert und sich für die Anerkennung der unantastbaren Rechte des Individuums eingesetzt zu haben. Bücher sind verfasst worden, die meisten wurden verboten und nur wenige übersetzt. Einige Medien aus Ägypten, Libanon, Algerien und Marokko haben unaufhörlich informiert und ebenjene politischen Systeme angeprangert, die nun Konkurs angemeldet haben; immerhin zwei der am festesten etablierten Diktatoren sind in der Folge zurückgetreten beziehungsweise geflüchtet.

Wir möchten also aus Europa bitte nie mehr zu hören bekommen: „Die arabischen Intellektuellen wehren sich nicht.“ Denn der Satz entbehrt jeder Grundlage. Sie wehren sich nicht nur, sie gehen auch jedes Mal Risiken ein, die kein westlicher Intellektueller sich vorstellen kann.

Verantwortung der USA

Bleibt noch Gaddafi, der Abscheuliche. Sein Fall ist am tragischsten, denn hier haben wir es mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu tun. Diese Verbrechen begeht er seit Jahrzehnten ungestört und ungestraft. Er wird nur vor Gewalt weichen. Doch die Aufständischen, die versucht haben, den Osten des Landes zu befreien, sind weder organisiert noch gut ausgebildet. Gaddafi behandelt sie wie einen äußeren Feind und bekämpft sie mit der Luftwaffe und schwerem Geschütz. Im Fall Libyen wird es keine schnelle radikale Lösung geben. Doch über kurz oder lang müssen auch dieser groteske Diktator und sein Clan abziehen (sollten sie einen Abnehmer finden) oder einfach von der Bühne verschwinden wie in einer von einem gefälligen Dramaturgen schlecht inszenierten Tragödie: Sie werden vom Wüstensand verschluckt werden.

Es gibt eine erdrückende Verantwortung der USA und Europas für den Fortbestand dieses Regimes seit der Zeit, als es offen Terrorismus verübte. In der Nacht vom 17. auf den 18.März 2011 hat der UNO-Sicherheitsrat – einige Mitglieder mit Vorbehalt, in jedem Fall sehr spät und nur auf Drängen Frankreichs – die Resolution 1973 verabschiedet, um die libysche Zivilbevölkerung vor der mörderischen Häme Gaddafis und seiner Söldner zu retten. Die Verzögerung und das Zaudern der internationalen Gemeinschaft kann auf verschiedene Gründe zurückgeführt werden: Zu einem bestimmten Zeitpunkt konnte man den Eindruck gewinnen, Gaddafi könne in Ruhe sein Volk abschlachten, weil sowohl die Arabische Liga als auch die USA dem saudischen Druck nachgegeben hätten, den Sturm des Aufstands aufzuhalten.

Die saudische Armee ist den immer stärker von Massenprotesten angeschlagenen Machthabern in Bahrain zu Hilfe geeilt. Laut der Agentur Reuters vom 15. März 2011 wurden mindestens 200 Menschen bei den Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Ordnungskräften in Manama getötet.

Die Resolution 1973 wird nicht alle Probleme lösen können, insbesondere weil die USA nicht noch in einem dritten islamischen Land direkt „eingreifen“ wollen. Gaddafi ist eine Art intelligenterer und perverserer Saddam Hussein. Er ist nicht verrückt, auch wenn er bestimmte psychische Störungen hat; sagen wir, es handelt sich um einen Psychopathen, der verschiedene Elemente mehrerer die Geschichte in Trauer versetzender Diktatoren in sich vereint: eine Prise Mussolini, ein wenig Stalin, ein wenig Saddam und viel eigene Perversität.

Gaddafi ist fasziniert von Nasser. Er wird niemals so viel Anerkennung und Prestige erlangen (selbst wenn Nasser auch ein Diktator war). Gaddafi hat seine psychischen Komplexe in großspurige Trümpfe umgewandelt. Er hat schon immer aus der Distanz zur ihn umgebenden Wirklichkeit heraus gehandelt. Er agierte aus der Schräge, selten von vorne. Libyen ist sein persönliches „Hab und Gut“. Er versteht gar nicht, wie man ihm das streitig machen oder ihm seine Haltung vorwerfen kann. Er wird bis zum Ende kämpfen, alle Register ziehen, seine Schläferzellen auf der ganzen Welt wecken, um Terrorakte zu begehen.

Am besten wäre es, wenn Gaddafi verhaftet und vor Gericht gestellt würde. Doch er bereitet sich wohl auf alles Mögliche vor, wie sonst hätte er sich 42 Jahre an der Macht halten können?

Es erheben sich Proteste gegen die westliche Armada gegen Gaddafi. Sicher prägt die Erinnerung an den März 2003 (die US-amerikanische Intervention im Irak) als endlose Tragödie das arabische Gedächtnis. Doch heute handelt es sich um Hilfeleistung für ein bedrohtes Volk. Wer ertrinkt, ergreift jede Hand, die sich ihm entgegenstreckt: Man rettet sich an Land und diskutiert später. Das Unglück will, dass die arabische Welt seit mehr als einem halben Jahrhundert unter einer Art Fluch leidet. Illegitime Regime, mehr oder weniger unverhohlene Diktaturen, Erniedrigungen der Völker, Unrecht so gut wie überall. Nun weht ein Wind der Freiheit in diesen Ländern; er bringt auch Würde und die Anerkennung des Einzelnen mit sich. Natürlich klingt das alles nicht wie in einer Symphonie, wo jede Note ihren Platz hat. Es gibt Improvisation, Impulse, Ungeduld, schöpferische Kreativität, und man kann noch nicht wissen, worauf das alles hinausläuft. Sicher ist nur, dass kein einziges arabisches Staatsoberhaupt absolute diktatorische Macht mehr ausüben kann. Die Angst ist verschwunden, wie weggeblasen.

Libyen, Jemen, Syrien

Männer und Frauen haben ihr Leben gegeben, damit dieser Frühling zu einer Befreiung werden kann. Die Ängste der Machthaber vor den möglichen Entwicklungen in Libyen, Jemen, Bahrain und Syrien sind verständlich. Manche Staatssysteme werden härteren Widerstand leisten als andere. Doch das Ende des Films kennen wir bereits: Die arabische Welt befindet sich mitten in einem Befreiungsprozess.

Der größte Sieg des arabischen Frühlings liegt in seiner Reife; seit Langem häufen sich die Demütigungen, wird die Verachtung immer unerträglicher, ist das Fass am Überlaufen und droht sogar in tausend Teile zu zerbersten. Doch die Geschichte hat ihren eigenen Rhythmus und ihre eigene Logik, die nicht immer denen der Historiker entsprechen.

Vor allem bedeutet die Bewegung auch eine Niederlage des Islamismus. Er hat den Anschluss verpasst

Die Menschen sind spontan auf die Straße geströmt, entschlossen, bis zum Ende durchzuhalten, ohne die Befehle irgendeiner Führungsfigur, eines Parteiverantwortlichen oder gar religiösen Oberhaupts zu befolgen. Der Sieg ist errungen: eine natürliche Revolution, die von allein vom Baum gefallen ist wie eine reife Frucht an einem Wintertag. Ihr Fall hat andere Früchte mitgerissen, und die Bäume haben zu tanzen begonnen wie zu einem glückbringenden Fest.

Niemand kann diese Bewegung vereinnahmen, deren Druckwelle bis nach China durchgedrungen ist und die wahrscheinlich auch nicht vor den kränkelnden multikulturellen Vororten europäischer Großstädte haltmachen wird.

In erster Linie bedeutet diese Bewegung die Niederlage des Islamismus. Die islamistischen Aktivisten wurden vom Ausmaß der Proteste überrumpelt und waren größtenteils nicht vertreten. Neue Werte, die eigentlich alte Werte sind, haben das Terrain der arabischen Protestbewegung erobert: Freiheit, Würde, Gerechtigkeit, Gleichheit. Das islamistische Softwarepaket – wie es einige nennen – hat den Anschluss verpasst. Facebook, Twitter, Internet und neue Vorstellungswelten haben den einschläfernden, anachronistischen und stumpfsinnigen Diskurs des Islamismus hinweggefegt, der zu seiner Verbreitung auf das Irrationale und einen neurotischen Fanatismus setzte.

Bei den großen Demonstrationen hat es an keiner Stelle eine Parole gegen die anderen gegeben: die Ausländer, die Europäer oder die Israelis. Diesmal haben die Araber ihr Schicksal in die eigene Hand genommen und beschlossen, den Zug der Moderne zu besteigen, ohne sich hinter einem Alibi zu verstecken oder dem Rest der Welt Schuldgefühle einzuimpfen. Was sie aus dieser neu entdeckten Würde machen, ist ihre Sache. Sie werden improvisieren und wahrscheinlich Fehler machen, doch sie wissen, dass sie nie wieder unter dem Joch eines aufgeklärten oder finsteren, lächerlichen oder grausamen Diktators leben werden. Wir sollten uns aber keinerlei Illusionen hingeben: Die Regime in den verschiedenen arabischen Ländern werden alles tun, um diese Befreiungswelle aufzuhalten.

Diese Revolte erreicht nach und nach den Status einer Revolution, sie weitet sich auf immer mehr Länder aus, und vor allem ist sie zuerst und insbesondere ethisch und moralisch.

Die Angst der Diktatoren

Heute sind sie alle verstört: die alten Bärte, die Diktatoren, die Sicherheitssheriffs, die Muchabarats (Geheimdienstleute), alle, die gewaltsam Macht ausgeübt und Verbrechen verübt haben, aber bisher ungestraft davongekommen sind. Sie wissen nicht, wie ihnen geschieht. Nie im Leben hätten sie sich vorstellen können, dass das Volk eines Tages aufbegehrt. Sie gingen davon aus, dass sie die Menschen endgültig niedergeschlagen, erniedrigt und am Boden zerstört hätten und sich niemand mehr aufrichten könne.

Diese Methoden hatten sich ja lange bewährt: in Lateinamerika, in den kommunistischen Ländern unter Sowjetregimen, in Afrika. Sie übten ausgeklügelte Strategien der Diktatur aus, sicherten sich nach allen Seiten ab, und der Zeitgeist sowie die westliche Welt gaben ihnen recht oder widersprachen zumindest nicht. Ihnen war nie der Gedanke gekommen, dass ihr Niedergang hart und unaufhaltsam sein würde. Nun verfallen sie in Panik, lassen in die Menge schießen, morden, halten beharrlich an ihrer Dummheit fest und handeln grausamer denn je. Sie mussten feststellen, dass der aus einem kleinen Land aufgezogene Sturm der Freiheit stärker und gewaltiger ist als alle Windböen, die sie ausgelöst haben, wenn sie Bürger unterdrückten, folterten und töteten, deren einziges Verbrechen darin bestand, sich für Freiheit und Würde einzusetzen.

Nach Libyen ist die Reihe nun an Syrien, einer alten vom Vater auf den Sohn übergegangenen Diktatur, die seit 41 Jahren besteht. Zum ersten Mal seit einem halben Jahrhundert strömen die Menschen auf die Straße und prangern dieses unmenschliche Regime an. Unmenschlich war auch dessen Reaktion: Am 15. März 2011 wurden in Daraa, einer hundert Kilometer südlich von Damaskus gelegenen Stadt, hundert Demonstranten getötet, darunter auch Kinder.

Diese Regime werden sich mit allen Mitteln verteidigen, denn ihre Vertreter wissen, dass sie keinerlei Legitimität besitzen und auch keinen Zufluchtsort finden werden. So ergeht es heute Gaddafi, und so wird es auch Baschar al-Assad ergehen, wenn er weiter auf Gewalt und Verbrechen setzt.

Zu den Fotos

  „Democratic Freedom Fighters“ nennt der Fotograf und Filmemacher Johann Rousselot seine Arbeit, der wir diese vier Bilder entnehmen.

  Die Arbeit entstand in Bengasi. Rousselot dokumentierte Graffiti, die dort überall an den Wänden zu finden sind, und kombinierte sie per Photoshop mit Porträts von Aufständischen aus dieser Stadt. Nur die Gesichter und die Slogans zusammen können für ihn diese historische Zeit im Bild erfassen.

Keine Repression der Welt kann die befreiende Wucht der Bewegung des arabischen Frühlings aufhalten. Die Bewegung ist lebendig und kreativ. Getragen wird sie von einer neuen Generation von jungen Menschen, von denen einige im Ausland gelebt haben und die alle im Gegensatz zu ihren Eltern die Fenster zur Außenwelt aufgerissen haben. Sie haben gesehen, wie junge Menschen in anderen Ländern leben; sie haben festgestellt, dass Freiheit eine Voraussetzung für wahres Leben ist. Wie im Traum hatten sie Eingebungen: Ihr könnt ein besseres Leben haben; ihr könnt den Diktaturen ein Ende setzen; es ist möglich, in Würde zu leben. Aber wie? Mit welchen Mitteln? Einfach indem man kommuniziert, Ideen austauscht, Pläne schmiedet. Die ganze Welt ist nur einen Mausklick entfernt. Sie ist riesig, diese Welt, doch die Zeit hat sich beschleunigt.

Die jungen Menschen haben sich gefragt, wie ihre Eltern sich damit abfinden konnten, unter schändlichen Diktaturen zu leben. Diese Regime haben sich durch Terror und Gewaltverbrechen an der Macht gehalten. Unendlich viele oppositionelle Männer und Frauen sind verschwunden, andere starben an der Folter, wieder andere leben im Exil. Das Besondere an der neuen Generation ist: Sie hat keine Angst! Das illustriert zum Beispiel das Schicksal des Libyers Mohammed Nabus. In Syrien haben Jugendliche Parolen gegen das Regime an die Mauern gesprüht; sie wurden verhaftet und brutal gefoltert. Doch andere Jugendliche machen an ihrer Stelle weiter.

Es wird Irrtümer geben

Diese neue Generation ist überall. Sie ist vielfältig und dennoch gleich. Sie ist in den verschiedenen Ländern verankert und hat doch ein Bein in der Außenwelt. Sie ist beseelt von den gleichen Ansprüchen und Idealen. Nicht nur dass die autoritären Regime das nicht voraussehen konnten, sie begreifen es nicht einmal. Sie entdecken plötzlich, dass dieser Aufstand nicht verhandelbar ist, sie müssen jeden Tag erneut feststellen, dass nichts die jungen Menschen aufhalten wird. Das ist das Neue und Historische an der jetzigen Situation.

Niemand kann heute wissen, was aus diesen Aufständen entstehen wird. Es wird Irrtümer, Versuche, vielleicht auch Unrecht geben, doch eines ist sicher: Nie wieder wird ein Diktator die Würde des arabischen Menschen mit Füßen treten können.

Diese Aufstände lehren uns etwas Einfaches, was die Dichter schon so oft besungen haben: Wer erniedrigt wird, weigert sich früher oder später, auf den Knien zu rutschen, und setzt sich unter Lebensgefahr für Freiheit und Würde ein. Diese Wahrheit ist allgemeingültig. Es ist eine große Freude, dass nun gerade die arabischen Völker die Welt daran erinnern.

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