ENTSCHEIDENDES DETAIL: Der nicht geküsste Kuss
Seit mehr als 20 Jahren sitzt Totò Riina, Boss der Bosse der sizilianischen Cosa Nostra, nunmehr in Haft. Wie es sich für einen Spitzenmafioso gehört, brach er nie sein Schweigen, jedenfalls nicht als Angeklagter vor Gericht. Beim Hofgang mit anderen Großkriminellen zeigte er sich mitunter redseliger.
Wie erst jetzt bekannt wurde, gab er vor einem Jahr folgende Auskunft: „Ich habe Andreotti nicht geküsst.“ Ganz Italien wusste sofort, wovon die Rede war – schließlich geht es um den umstrittensten Kuss der italienischen Geschichte seit 1945. Am 20. September 1987 soll er sich zugetragen haben, bei einem geheimen Gipfeltreffen zwischen Riinà und Giulio Andreotti, damals Außenminister und der wohl mächtigste italienische Politiker, der siebenmal Regierungschef war. Das jedenfalls sagte Riinas damaliger Chauffeur aus.
Andreotti hatte ein echtes Problem: Angeklagt als politischer Gewährsmann der Mafia, wurde er beschuldigt, einen allzu herzlichen Kontakt mit der Nummer eins der Cosa Nostra unterhalten zu haben. Doch seine Verteidiger, in der Presse genauso wie in den Gerichtssälen, drehten den Spieß kurzerhand um: Ein Kuss? Zwischen Riina und Andreotti? Lächerlich! Der immer zugeknöpfte Andreotti engumschlungen mit Totò, ganz so wie Breschnew und Honecker? Unvorstellbar!
Die Verteidigungsstrategie hatte Erfolg. Der Kuss wurde zum entscheidenden Detail für Andreottis Freispruch. Was das Treffen von 1987 angeht, wurde die Aussage des Kronzeugen als unglaubwürdig eingestuft. Nur bis 1980 seien seine Mafia-Kontakte belegt, befanden die Richter – also verjährt. So verließ der Cosa-Nostra-Freund das Gericht als freier Mann, durch keine Vorstrafe befleckt.
Im Mai 2013 starb Andreotti als Staatsmann, beweint von fast ganz Italien. Posthum bekommt er nun also recht von Riina. Der Mafioso dementierte beim durch die Fahnder abgehörten Geplauder allerdings bloß den Kuss, nicht aber den großen Rest. „Wir haben uns in der Tat getroffen“, sagte er. MICHAEL BRAUN
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen