: Blindes Verständnis auf dem Platz
VON CHRISTIAN BECKER
Torschusstraining ist angesagt. Der Spezialball rasselt. In hohem Tempo dribbelt Sabrina auf das Tor zu. Meter um Meter kommt sie näher. Die Körperspannung steigt, sie ist auf den Abschluss fixiert. Nun wird es Zeit zu schießen. „Schuss!“ ruft Trainer Peter Allwardt, und Sabrina feuert den Ball mit voller Wucht halbhoch in die rechte Torecke. „Gut so“, sagt der Trainer anerkennend, „und jetzt der Nächste.“
Sabrina Führer ist 25 Jahre alt und seit ihrer Geburt blind. Die gelernte Bürokauffrau, die an der Universität Witten-Herdecke arbeitet, kickt bei BSG Essen, einer der ersten gemischten Blindenfussballmannschaften in Deutschland. Auf einem Workshop in Berlin vor einem Jahr haben Trainer Allwardt und Sabrina Führer die Gründung eines eigenen Teams beschlossen. Mit Erfolg, das Projekt gedeiht, kontinuierlich kommen neue Spieler und Spielerinnen hinzu. Mittlerweile gibt es drei Frauen im Team. „Eine Frau bräuchten wir noch, dann hätten wir die Feldspieler für ein Frauenteam komplett“, sagt Sabrina. In Berlin kickt schon ein Frauenteam, ansonsten gibt es bundesweit bis dato sieben gemischte Teams für Sehbehinderte, Tendenz steigend.
Auch auf Funktionärsebene tut sich was. Momentan steht zur Debatte, ob der Essener Standort zum Bundesleistungsstützpunkt wird. Offizieller Leistungsstützpunkt von NRW ist er bereits. Die bundesweite Konkurrenz ist groß, doch macht man sich in Essen berechtigte Hoffnungen. Auch Pläne für eine Liga sind schon weit fortgeschritten.
„Es wäre natürlich super, wenn das klappt, ein wichtiger Schritt“, hofft Sabrina und streicht sich eine Strähne ihres blonden Haars aus dem Gesicht. Dann wendet sie sich wieder dem Spielfeld zu, sie will schließlich nichts verpassen. Es ist Dienstagabend, 20 Uhr. „Los Leute, Gymnastik!“ ruft der Trainer. Sabrinas MannschaftskameradInnen im Alter von elf bis 45 Jahren dehnen und stretchen sich. Peter Allwardt gibt die Kommandos. Alle sind voll bei der Sache. Die Spielerinnen und Spieler machen einen konzentrierten Eindruck, trotzdem wird hin und wieder ausgelassen geflachst.
„Gymnastik ist echt nicht so mein Ding“, gesteht Sabrina, „aber das gehört nun mal dazu.“ Ihre Stärken sind ihr präzises Timing und die gekonnte Ballbehandlung, mit denen sie körperliche Defizite gegenüber den männlichen Mitspielern kompensiert. Sie geht immer mit vollem Einsatz zur Sache, Angst vor ernsthaften Verletzungen kennt sie nicht. Abgesehen von dem „ein oder anderen Pferdekuss“ habe sie bislang auch keine schwereren Blessuren davongetragen.
Fünf Spieler bilden beim Blindenfussball ein Team: ein Torwart, ein Verteidiger, zwei Mittelfeldspieler und ein Stürmer. Anders als die Feldspieler ist der Torwart sehend, er dirigiert seine Mannschaft. Gespielt wird in einer 40 Meter langen und 20 Meter breiten Sporthalle über eine Spieldauer von zwei Mal 25 Minuten. Von außen gibt Trainer Allwardt Anweisungen und lenkt das Team. Seine Rolle ist besonders wichtig. Mit Hilfe seiner Regieanweisungen können sich die Sportler auf dem Spielfeld orientieren und wissen dann genau, wo sich Ball, Mitspieler und Gegner befinden. Alle Spieler tragen während des Spiels Augenbinden; auf diese Weise wird verhindert, dass Spieler mit Restsehwert einen Vorteil haben.
Um die Orientierung seiner Schützlinge zu schulen, ist Allwardt mit seinem Team im Training hunderte Male das Spielfeld abgegangen. Jeder Quadratmeter hat sich ihnen eingeprägt. Außerdem kommunizieren die Mannschaftskameraden natürlich auch untereinander, damit sie wissen, wo der Mitspieler steht oder von wo der heranstürmende Gegner naht. Jeder Spieler hält sich möglichst in einem Bewegungskorridor gemäß der ihm zugeteilten Position auf. Die Laufwege sind längst verinnerlicht. Und das vereinfacht die Sache gewaltig. Damit die Spieler wissen, wo sich der Ball befindet, rasselt er. „Wie eine Kinderrassel“, beschreibt Sabrina das liebgewonnene Spielgerät.
Einige Minuten später: Energisch dribbelt Sabrina Richtung gegnerisches Tor. Sie läuft genau auf einen Verteidiger zu. Das wird knapp. Etwa zwei Meter vor dem drohenden Zusammenprall ruft der Verteidiger „Voy“. Sabrina reagiert blitzschnell. Ein abrupter Haken nach links und sie ist am Gegner vorbei. Das Manöver wirkt erstaunlich sicher, geradezu selbstverständlich. „Voy“, erklärt sie dann, „ist Spanisch und bedeutet ‘Ich komme‘. So weiß ich, wenn ich das höre, dass mir jemand entgegenkommt.“
„Denis“, ruft sie fragend, dreht sich nach links und passt den Ball zu dem drei Meter links von ihr postierten Mitspieler, der sich mit „hier“ meldet. Über die Stimmen kann das Team das Spielgeschehen koordinieren. Deshalb muss das Publikum bei Spielen sehr leise sein. „Beim Blindenfußball läuft es andersherum. Hier ist das Publikum ruhig und wir machen den Krach“, erklärt Sabrina mit breitem Grinsen.
Zwei Mal pro Woche trainiert das Team in der Sporthalle im Essener Stadtteil Burgaltendorf. Die ehrgeizige Sabrina verpasst kein Training. Dafür nimmt die zierliche junge Frau jedes Mal rund 90 Minuten Fahrtweg in Kauf, denn sie wohnt in Witten. Aber das ist es ihr wert. Und schließlich werde sie ja am Essener Hauptbahnhof vom extra für die Sportler eingerichteten Fahrservice des Vereins abgeholt. Sabrina Führer weiß, was sie will. Selbstbewusst ist sie und zielstrebig. „Sabrina zeichnet sich vor allem durch enormen Willen aus. Fussball ist ihre absolute Leidenschaft“, bestätigt ihr Trainer, der sichtlich stolz ist auf seinen Schützling.
„Fußball war schon immer total wichtig für mich, schon seit ich zehn war“, erinnert sich Sabrina Führer, die eine passionierte Schalke-Anhängerin ist. „Mein Opa hat mich damals mal ins Stadium mitgenommen. Seitdem hab‘ ich eine Dauerkarte und gehe auch fast zu jedem Auswärtsspiel.“ Vergangenes Jahr war sie bei allen 34 Spielen ihrer Schalker dabei, betont das Mitglied des Fanclubs „Supporter‘s club“ nicht ohne Stolz. Und auch in dieser Saison werden es „mindestens wieder 32!“ ist sie sich sicher. Vor allem die Stimmung im Stadion hat es ihr angetan. Die Atmosphäre dort sei so intensiv, habe etwas Magisches.
Als sich im letzten Jahr die Gelegenheit bot, selbst aktiv zu kicken, ließ sich Sabrina von Trainer Allwardt nicht zwei Mal bitten. So wurde im Oktober 2006 die erste Sehbehindertenfußballmannschaft mit einer Frau in Essen gegründet. Die „Essener Pionierin“ war schon immer sportlich, daher war der Schritt nur konsequent. Früher spielte die aufgeschlossene junge Frau bereits Torball, eine spezielle Variante für Blinde. Außerdem fährt sie regelmäßig mit ihren Inline-Skatern. Die Chance, Fußball zu spielen, sei für sie schließlich die Erfüllung eines Traums gewesen, sagt Sabrina Führer.
Auf die Frage, was sie am Fußball besonders liebe, kommt die Antwort wie aus der Pistole geschossen: „Eigentlich alles! Die Intensität, die Herausforderung, das Gefühl zu gewinnen, die Kameradschaft und natürlich auch das gemeinsame Sportlerbier nach dem Spiel.“ Sabrina Führer hat ihr eigenes Rezept, eine Spielsituation zu lesen: „Ich sehe dabei mit den Ohren, mit der Nase, mit den Händen.“ Zur Orientierung helfe ihr zudem der Schall ihrer Schritte: Je nachdem wie nah sie beim Spiel der Bande komme, verändere sich der Klang, würde heller oder dumpfer.
Ein Rasseln kündigt den Ball an, der in diesem Moment auf Sabrina zurollt. Mit einem schnellem Seitschritt stoppt ihn Sabrina gekonnt mit der rechten Innenseite. „Hier“, ruft ein Mitspieler, und Sabrina passt den Spielball erstaunlich exakt zurück. Hier wird klar, dass die Chemie im Team stimmt. Gegenseitiges Verständnis ist das A und O für ein gutes Zusammenspiel. Auf den Gemeinschaftsgeist legt Sabrina Führer großen Wert. Jeder vertraut jedem, das gilt für Mannschaft und Trainer. Und auch als Frau habe sie keinerlei Akzeptanzprobleme. „Wir sind ein tolles Team“, sagt Sabrina grinsend und brüllt dann aus voller Kehle quer über den Platz: „Leute, sind wir ein gutes Team?“ – „Natürlich“, erwidern die Mannschaftsgefährten ohne zu zögern und nicken zustimmend.
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