: Folgt auf Demjanjuk John Kalymon?
ERMITTLUNGEN Wenn John Demjanjuk schuldig gesprochen wird, stehen weitere NS-Verfahren an
Mit Spannung erwarten die Mitarbeiter der Zentralen Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg das Urteil im Fall Demjanjuk. Die Arbeit der Staatsanwälte und Ermittler, die vor Jahren den Anstoß für das Münchner Verfahren gegeben haben, könnte vom Ausgang des Verfahren direkt betroffen sein.
Denn sollte Demjanjuk schuldig gesprochen werden, dann bedeutete das juristisch gesehen Neuland, weil erstmals ein NS-Täter zur Verantwortung gezogen würde, ohne dass ein individueller Schuldbeweis angetreten worden ist. Die Münchner Staatsanwalt geht davon aus, dass allein die Anwesenheit Demjanjuks im Vernichtungslager Sobibor ausreichender Beweis dafür ist, dass der „Hilfswillige“ am Massenmord an den Juden beteiligt war. Die „Hilfswillligen“ waren in den Vernichtungsprozess einbezogen, lautete auch das Gutachten des Historikers Dieter Pohl vom Institut für Zeitgeschichte. „Alle Wachmänner kamen dran bei der Bewachung des Lagers und bei der Vernichtung von Menschen“, zitierte Pohl im Januar vor Gericht einen in Sobibor eingesetzten SS-Mann.
Sollte sich diese Rechtsauffassung durchsetzen, käme auf die Ludwigsburger eine Menge Arbeit zu. In diesem Fall, so deren stellvertretender Leiter Thomas Will zur taz, könnten Ermittlungen gegen mutmaßliche Täter wieder aufgenommen werden, bei denen ein individueller Schuldnachweis nicht gelungen ist und die daher eingestellt wurden. Dies, so Will, beträfe sowohl in Deutschland als auch im Ausland lebende Männer – möglicherweise Dutzende neue Fälle.
Unabhängig vom Münchner Urteil laufen in Ludwigsburg derzeit Vorermittlungen gegen weitere mutmaßliche NS-Täter, über deren Zahl Will keine Auskunft geben möchte. In der Zentralstelle für die Bearbeitung nationalsozialistischer Massenverbrechen in Dortmund sind 18 Vorermittlungen zu einzelnen NS-Tatkomplexen in Arbeit, sagte Staatsanwalt Andreas Brendel der taz. Die Ermittlungen richteten sich gegen SS- und Wehrmachtsangehörige. Eine Ermittlung stehe kurz vor dem Abschluss, sagte Brendel.
Das letzte große Verfahren der Dortmunder endete im letzten Jahr mit dem Tod des 90-jährigen Angeklagten noch vor Prozessbeginn: Der Wolgadeutsche Samuel Kunz soll im Vernichtungslager Belzec am Holocaust beteiligt gewesen sein.
Noch eine weitere Ermittlungsbehörde blickt gespannt auf das Münchner Urteil: Bei der Staatsanwaltschaft München I steht die Entscheidung über eine Anklage gegen John Kalymon an. Der ehemalige ukrainische Polizist in deutschen Diensten soll im besetzten Lemberg bei einer Ghettoräumung mindestens einen Juden erschossen haben. „Ich, Iv Kalymun vom 5. Kommissariat der ukrainischen Polizei, habe dienstlich während der Judenaktion am 14. 8. 1942 um 19 Uhr die Waffe eingesetzt und 4 Stück Munition verwendet, wobei ich eine Person verletzt und eine getötet habe“, lautet die handschriftliche Notiz, die dem heute in den USA lebenden 90-jährigen verrenteten Autoarbeiter zugeschrieben wird.
Sollte es zum Prozess gegen Kalymon kommen, dann wäre das ein neuer Fall Demjanjuk. Denn dann müsste sich zum zweiten Mal ein mutmaßlicher ausländischer NS-Täter vor einem deutschen Gericht verantworten, der sich die US-Staatsbürgerschaft erschlichen hat und den die Vereinigten Staaten liebend gerne loswerden würden. KLAUS HILLENBRAND
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