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Die schlafende Königin

WRACKTAUCHEN Das Tankschiff „Haven“ hatte rund 144 Millionen Liter Rohöl geladen, als es am 14. April 1991 im Golf von Genua in den Fluten versank. Heute ist es ein Eldorado für Sporttaucher aus aller Welt

ABTAUCHEN ZUR „HAVEN“

Das Schiff: Die „Amoco Milford Haven“ lief 1973 in Cádiz, Spanien, vom Stapel. Länge: 334 Meter, Breite: 51 Meter. Nach einem Raketentreffer im Iran-Irak-Krieg sollte das Schiff 1987 verschrottet werden, wurde dann aber doch repariert. Das Schwesterschiff, die „Amoco Cadiz“, sank 1978 vor der Bretagne und verpestete die Nordsee mit 223.000 Tonnen Öl.

Das „Haven“-Wrack: Der Supertanker liegt aufrecht in 80 Metern Tiefe im Golf von Genua. Sporttaucher mit gesetzlich vorgeschriebenem Deep Diver Brevet dürfen in die oberen drei Etagen eintauchen, tiefere Bereiche nur für Tec Diver mit Spezialgasgemischen.

Reisezeit: Ganzjährig, wobei die Wintermonate eher etwas für Hartgesottene sind. Hauptsaison ist von Mai bis Oktober.

Tauchbasen: Pianeta Blu Diving Center – Luca Coltri kennt das Wrack in- und auswendig, www.pianetablu.com. Haven Diving Center, Arenzano – die Tauchbasis hat sich auf das Wrack spezialisiert, bietet Sport- und Tec-Tauchgänge an, www.havendiving.com.

Lesetipp: Egidio Trainito (Hrsg.): „Abenteuer Wracktauchen. Auf den Spuren versunkener Schiffe“. Bildband mit Aufnahmen der „Haven“, White Star Verlag, Wiesbaden 2010

Infos: Italienische Zentrale für Tourismus ENIT, Neue Mainzer Straße 26, 60311 Frankfurt/Main, www.enit-italia.de

VON MARC VORSATZ

Vor 20 Jahren verursachte die „Haven“ im Golf von Genua die verheerendste Umweltkatastrophe im gesamten mediterranen Raum. Heute ist der Supertanker das größte und meistbetauchte Wrack des Mittelmeers. Anhand von Regierungsunterlagen, Gerichtsurteilen, Expertengesprächen, historischen Filmaufnahmen und Augenzeugenberichten dokumentieren wir hier den Untergang und seine Folgen – und tauchen ab bis in die Kommandozentrale der Schiffsruine.

Tag 1, Donnerstag, den 11. April 1991, 12.38 Uhr: Kapitän Petros Grigorakakis dreht seine obligatorische Runde. Überall herrscht geschäftiges Treiben an Bord, es wird geschraubt, geschweißt, gepinselt, geputzt. Friedlich liegt die „Haven“ im Golf von Genua vor Anker. Die wechselhafte Aprilsonne lugt ab und zu zwischen dunklen Wolken hindurch, und von den Alpen weht eine frische Brise herüber. Wie angenehm mild es am Verladehafen von Kharg Island im Iran noch war. Aber sein geliebtes Mittelmeer reflektiert dieses launische Wechselspiel des Lichts so schön. Der 47-Jährige ahnt in diesem Moment nicht, dass ihm nur noch wenige Augenblicke bleiben.

„Pippo“ kontrolliert eigenhändig unsere Brevets. Wer keinen Deep Diver in der Tasche hat, darf nicht mit runter. Das verlangt der italienische Gesetzgeber. In puncto Sicherheit versteht Guiseppe Di Piazza gar keinen Spaß. Der ansonsten so humorvolle Chef des Haven Diving Centers in Arenzano hat gute Gründe für seine Akribie. Selbst zwei Jahrzehnte nach dem Untergang fordert die „Königin des Mittelmeeres“ immer wieder ihren Tribut. Fast jedes Jahr verunglücken leichtsinnige Taucher.

12.39 Uhr: Von einer Sekunde auf die andere ist nichts mehr so, wie es einmal war. Im Inneren des Schiffs gerät etwas aus den Fugen, was nicht aus den Fugen geraten darf. Es habe sich angehört, als ob monströse Stahlträger mit unvorstellbarer Wucht gegeneinanderschlugen, werden später die Überlebenden zu Protokoll geben. Was sich da im Verborgenen genau abgespielt hat, konnte bis heute nicht genau geklärt werden. Auf jeden Fall löst die Havarie eine Kettenreaktion aus, die durch Menschenhand nicht mehr zu stoppen ist.

Als unser Skipper das 300 PS starke Schlauchboot auf Kurs trimmt, hängen schwere Regenwolken tief über dem Wasser. Mit im Boot sitzen vier italienische Taucher. Minuten später gleiten wir mit einer Rolle rückwärts über die flache Bordwand, und uns umfängt eine fremde Welt. Wir fassen die Führungsleine, die sich irgendwo im Dunklen verliert und uns direkt zur Haven leiten wird. Meine Aufmerksamkeit fokussiert sich nun ausschließlich auf das Unten.

12.40 Uhr: Plötzlich verpufft Gas in gelöschten Tanks. Andere – volle – Öltanks bersten. Schon bricht ein Feuerinferno über das Schiff herein. Der Himmel brennt, bis zu 400 Meter schießen die Flammen empor, und eine tiefschwarze, hochtoxische Rauchwolke wächst rasant bis in die Stratosphäre.

32 Männer der bunt gemischten 37-köpfigen Crew aus Griechen, Indern, Filipinos und Sri Lanker können sich mit einem Sprung über Bord retten.

Sofort setzt die Hafenverwaltung alle verfügbaren Rettungskräfte in Bewegung. Da gibt es nur ein Problem: Es sind kaum noch welche da. Gut 14 Stunden zuvor rammte die Fähre „Moby Prince“ den Öltanker „Agip Abruzzo“ vor Livorno und fing dabei Feuer.

Auf dem Weg nach achtern zum Schornstein erwischt uns eine heftige Strömung

Unter uns zeichnet sich ein helles Rechteck gegen die Finsternis ab. Das muss das Dach der sogenannten Kathedrale sein! So werden die Aufbauten mitsamt den Decks bezeichnet. Schon erkenne ich Details. Verschiedene kleine Algen und unzählige Muscheln haben die Außenhaut in Beschlag genommen. Das Geländer entlang der Kante scheint hingegen noch immer den Menschen Halt zu geben. Und das in 33 Metern Tiefe. Unsere Aussichtsplattform bietet einen Panoramablick per excellence. Das finden wohl auch Tausende kleine Fahnenbarsche, die im Schein unserer Lampen knallrot leuchten. Erst jetzt beginne ich als „Neuer“ zu begreifen, wie unfassbar groß dieser Supertanker ist. Liegend erreicht das Wrack die Höhe eines 18-stöckigen Hauses. Selbst die elegante „Titanic“ wäre heute nur ein Zwerg gegen den schmucklosen Riesen.

21.00 Uhr: Als sich die Nacht wie ein dunkles Tuch über das Mittelmeer legt, erleuchtet eine brennende Fackel den Golf von Genua. Die Fackel heißt „Haven“ und lässt sich nicht mehr löschen. Alles bei diesem Unfall scheint das Maß des Normalen und Vorstellbaren zu sprengen.

Der Mensch ist winzig und hilflos angesichts dieser entfesselten Dimensionen, die er doch selbst kreiert hat. Sogar die Löschschiffe wirken vor dieser Feuerwand wie putzige Requisiten aus der Welt von Barby und Ken. Das Mittelmeer erlebt die größte Umweltkatastrophe seiner Geschichte. Verliert die „Exxon Valdez“ 1989 vor Alaska rund 42 Millionen Liter Rohöl, sind es bei der „Haven“ unvorstellbare 144 Millionen Liter.

Wir schweben über das Geländer und lassen uns auf die Plattform vor der Kapitänsbrücke durchsacken. Die einstige Schaltzentrale liegt nun 36 Meter unter Normalnull und ist fast vollkommen leer. Das gesamte Interieur hatte sich damals buchstäblich in Rauch aufgelöst.

In der Mitte des Raums steht heute ein kleines Podest mit einer noch kleineren Statue darauf. Es ist ein Replikat des Prager Jesuleins aus der Santuario di Gesù Bambino in Arenzano.

Die italienischen Taucher gehen auf die Knie und beten für die Seelen der fünf verstorbenen Seeleute, bevor sie sich bekreuzigen und in den düsteren Katakomben aus Stahl entschwinden.

Schlagartig fühle ich die menschliche Dimension der heute fast vergessenen Tragödie. Die „Haven“ ist Unfallort, Krematorium und Grabstätte zugleich. Von Ioannis Dafnis, Domingo Taller, Gregorio Celda, Serapion Tubonggan und ihrem Kapitän Petros Grigorakakis fehlt bis heute jede Spur.

TAUCHEN, WELTWEIT

Für Insider: Dschibuti steht noch nicht lange auf der Liste der Tauchreviere. Es gilt als eines der besten Walhai-Reviere. Einer der wenigen europäischen Veranstalter: www.spirosub.de

Im Dschungel: Unter dem Dschungel auf der mexikanischen Halbinsel Yucatán verbirgt sich ein Höhlenlabyrinth, das Taucher für sich entdeckt haben. Regenwasser hat dort das größte unterirdische Flusssystem der Welt geschaffen: www.yucatek-divers.com

Auf dem Friedhof: Taucher schweben an bronzenen Löwen vorbei, passieren Säulen und Gewölbe am aufsehenerregendsten Spot der Szene. Wenige Kilometer vor Key Biscane haben zwei Amerikaner den Unterwasserfriedhof Neptune Memorial Reef geschaffen. 6.700 Dollar kostet eines der Gräber. Infos: www.nmreef.com

Für Quallenfans: Der Jellyfish Lake auf dem Inselstaat Palau (Pazifik) ist weltberühmt. Was Taucher im Meer unter allen Umständen meiden, suchen sie hier: Quallen. Die besondere Art in diesem Salzwassersee ist nämlich absolut ungefährlich. In der Tiefe leuchten und tanzen tausende orangefarbene und braune Exemplare. Weitere Infos: www.visit-palau.com

Für den guten Zweck: Die Wasserwelt zwischen Indonesien und Bali zählt zu den Hotspots. Hier vermischen sich Pazifik und Indischer Ozean, und man trifft auf die Fischwelt beider Meere. Taucher können dort Gutes tun: Korallenriffe, die durch Dynamitfischerei beschädigt wurden, werden jetzt künstlich wiederaufgebaut. Bei jedem Tauchgang werden 5 Dollar gespendet: www.scubali.com

Unterwasserautos: Vor Curaçao kommen auch Autofans ins Schwärmen. Vor der Hauptstadt Willemstad liegen zwei Dutzend Buicks und Fords aus den 40er und 50er Jahren: www.allwestcuracao.com

Eiskalt: 2 bis 4 Grad Celsius, so kalt ist das Wasser im Winter im österreichischen Blindsee. Klingt nicht verlockend, aber das Unterwassererlebnis ist einmalig: kein Schiffslärm, keine Brandung und Sichtweiten bis zu 50 Meter: www.tauchen-in-tirol.at (Christian Schreiber)

Tag 2, Freitag, 12. April: Zwar legen Bergungsteams endlich kilometerlange Barrieren aus, doch immer wieder schwappt das Rohöl darüber hinweg. Wochen später wird die Küste von Ligurien über Monaco bis hin zur Côte d’Azur verseucht sein, und engagierte Tierschützer werden monatelang um das Überleben ölverschmierter Vogel kämpfen. Männer in weißen Vollschutzanzügen werden schwarze Ölklumpen vom Strand sammeln und ganze Felsbrocken abseifen.

Gegen Mittag erschüttert eine weitere gewaltige Explosion das brennende Schiff. Einlaufendes Wasser drückt die „Haven“ mittschiffs unter und hebelt dabei 95 Meter Vorschiff ab der Bruchstelle gespenstisch langsam in die Höhe. Um 13.20 Uhr reißt der Bug vollständig ab und versinkt. Es sind die Tanks, die die Schiffsruine über Wasser halten. Noch.

Wir tauchen über eine steile Stahltreppe ein Stockwerk tiefer. Sofort umfängt mich Dämmerung in einem fensterlosen Gang. Kein Ort für Klaustrophobiker. Der Maschinenkontrollraum liegt auf 39 Metern. Die kahlen Wände wirken bedrückend auf mich, ich fühle mich befreit, als wir ihn durch eine Fensteröffnung verlassen. Ins Offiziersdeck eine Etage tiefer schauen wir nur von außen. Auf dem Boden liegt ein halb zusammengebrochener Metalltisch. Er ist das neue Zuhause einer beindicken grünen Muräne. Kampfbereit giftet sie uns an. An diesem Tisch möchte niemand Platz nehmen. Die noch tieferen Etagen sind dann ausschließlich sogenannten TecDivern mit speziellen Atemgasen vorbehalten.

Tag 3, Samstag, 13. April: Die Hitze ist so gewaltig, dass sie selbst schwere Stahltrassen wie Kaugummi verformt. Gegen 10.35 Uhr ereignen sich erneut mehrere schwere Explosionen. Ein Loch von der Größe eines Einfamilienhauses klafft achtern in der Außenwand. Wieder bersten volle Tanks, wieder haben die Flammen zig Millionen Liter neues Futter.

Die Bilanz wird rückblickend ernüchternd sein: Über 90.000 Tonnen Rohöl verbrennen. Geschätzte 16.000 t verdampfen, 1.000 bis 1.500 t werden bis an die französische Riviera gespült, lediglich 2.000 t können von der Oberfläche abgefischt werden, rund 5.000 t treiben hinaus aufs offene Meer, ungefähr 25.000 t Rohöl sinken, und 3.000 t gehen zusammen mit dem Wrack unter. Der Meeresboden wird auf einer Fläche von 100 Quadratkilometern kontaminiert, der Fischbestand geht rapide zurück.

Auf dem Weg nach achtern zum Schornstein erwischt uns eine heftige Strömung. Zentimeter für Zentimeter kämpfen wir uns voran. Pause machen geht nicht. Und trotzdem hat das seinen eigenen Reiz, passt irgendwie zu diesem Tauchsport der Extraklasse. Der Schornstein musste unter Wasser gekappt werden, um nicht auch noch andere große Pötte aufzuschlitzen.

Die Hitze ist so gewaltig, dass sie selbst schwere Stahltrassen wie Kaugummi verformt

Das war nur eine von vielen kostspieligen Aktionen. Über 500 Millionen Euro hat dieser Untergang den italienischen Staat insgesamt gekostet. Dank dieser Maßnahmen und der Selbstheilungskräfte der Natur hat sich die Umwelt bis heute wieder vollständig regenerieren können. Entstanden ist dabei ganz nebenbei ein Spielplatz der Superlative. Die „Haven“ ist heute ein Anziehungspunkt für Taucher.

Ach so, und die Eigner? Die Staatsanwaltschaft forderte für die Reeder Lucas und Stelios Haji-Ioannou eine siebenjährige Haftstrafe wegen fünffachen Totschlags sowie Schadensersatz, da sie ein absolut marodes Schiff betrieben hätten. Die Milliardäre wurden in letzter Instanz freigesprochen. Heute fliegt EasyJet-Gründer Stelios Haji-Ioannou mit seiner Billig-Airline auch Taucher zur „Haven“.

Tag 4, Sonntag, 14. April: Nach 70 Stunden Todeskampf bäumt sich das brennende Schiff ein letztes Mal auf. 10.05 Uhr: Die „Haven“ sinkt.

Für uns Taucher lebt die „Haven“ hingegen weiter. Sie ist eine schlafende Königin in einem Bett aus Sand.

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