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„Das ist ein kalter Krieg gegen Arme“

Brasilien will, wie Thailand und Indien, selbst billige Aidsmedikamente herstellen – und die Patente dafür ignorieren. Das ist ein notwendiger, überfälliger Schritt, ist die brasilianische Gesundheitsexpertin Eloan Pinheiro überzeugt

ELOAN PINHEIRO, 62, Chemikerin, leitete von 1993 bis 2003 das staatliche Labor Farmanguinhos in Rio. Dort war sie eine der Schlüsselfiguren von Brasiliens Anti-Aids-Programm, das alle Patienten kostenlos versorgt. 2004–2006 arbeitete sie bei der WHO. 2006 half sie Bangladesch, Anti-Aids-Mittel zu entwickeln. Morgen nimmt sie an der Tagung „Patienten, Patente und Profite“ in Berlin teil. (www.medico.de)

taz: Frau Pinheiro, Brasilien hat entschieden, erstmals das Patent eines Aidsmedikaments zu brechen. Hat Sie das überrascht?

Eloan Pinheiro: Ja. Allerdings hatte ich auf diesen Schritt gehofft, denn die Regierung stand unter Druck. Merck war so unflexibel, das war fast ein Affront. Seit 2003 hatte sich der Preis für das teure HIV-Medikament Efavirenz kaum verringert, obwohl immer mehr Patienten damit versorgt wurden. Auch der Deal 2005, der dem US-Konzern Abbott über vier Jahre einen Festpreis für das HIV-Medikament Kaletra garantierte, war zum Nachteil Brasiliens.

Ist das ein Richtungswechsel in der brasilianischen Politik – oder bleibt es eine Ausnahme?

Lula scheint eine konsequentere Haltung einzunehmen. Wir müssen viel mehr Medikamente in Brasilien selbst produzieren, sonst ist irgendwann der Zug abgefahren.Wir haben schon heute eine Reihe von eigenen Medikamenten und den größten Pharmamarkt in Lateinamerika – 6 Milliarden US-Dollar im Jahr. Und der Staat ist ein großer Käufer. Doch die einheimische Produktion wurde immer wieder unterdrückt.

Warum?

Anfang der 90er-Jahre hat Präsident Collor die Importzölle für Medikamente aufgehoben, und dabei blieb es. Danach wurde viel geredet, aber zu einer Industriepolitik für eine autonome Arzneiproduktion kam es nicht. In den letzten Jahren haben wir argumentiert, dass die Pharmaindustrie von strategischer Bedeutung für Brasilien ist, nicht nur für die industrielle Entwicklung, sondern auch für das Gesundheitswesen. Mittlerweile gibt die staatliche Entwicklungsbank günstige Kredite, um wichtige Medikamente gezielt zu fördern. So werden Innovationen möglich.

Wenn Brasilien das HIV-Medikament Efavirenz künftig ohne Patent selbst produziert – was wird dann geschehen? Rechnen Sie mit Repressalien?

Natürlich wird es Druck geben. Aber wir sind in der Patentfrage an einer Grenze angelangt. Für das Medikament Tenofovir zahlt Brasilien 3,80 Dollar pro Tablette an die Firma Gilead Sciences, für die das ein Riesengeschäft ist. Ursprünglich waren die Patente ja als Garantie für die weitere Forschung gedacht, aber heute wird alles Mögliche patentiert, um die Monopole der Firmen zu sichern. Wenn ein einzelnes Land eine Zwangslizenz verhängt, sagen die USA: Wir bestrafen das. Die US-Handelskammer droht Sanktionen an. Das ist ein kalter Krieg mit Menschenleben.

Was wollen Sie dagegen tun?

Wir müssen erreichen, dass dies im Rahmen der UN neu geregelt wird – mit internationalen Zwangslizenzen und gerechten Preisen für arme Länder. Wir müssen das aus der Welthandelsorganisation herausnehmen, um Sanktionen zu vermeiden und wieder bei der UN-Organisation für geistiges Eigentum (Wipo) ansiedeln. Keinem Staat sollte es verboten werden, Aidsmedikamente für seine Bürger zu finanzieren. Im Übrigen handelt es sich um marginale Bereiche, wenn wir das globale Pharmabusiness betrachten.

Müssten diese Regeln nicht auch für Mittel gegen Malaria oder Tuberkulose gelten?

Diese Bereiche interessieren die Multis doch gar nicht, weil da die kaufkräftige Kundschaft fehlt. Die letzte Arznei gegen Tuberkulose stammt aus dem Jahr 1940. Und auf der Welt gibt es zwei Milliarden, die mit TB infiziert sind. Das ist ein viel weiteres Feld: Man muss den Bedarf an wichtigen Medikamenten feststellen und internationale Strategien entwickeln.

Tut die Weltgesundheitsorganisation genug dafür?

Die WHO müsste eigentlich die Interessen des Südens vertreten, aber die politischen Kräfteverhältnisse sind leider nicht so. Deshalb ist es noch immer möglich, dass ein Mittel gegen Hepatitis C weiterentwickelt – und mit einem 20-Jahres-Patent versehen wird. Angesichts dessen, angesichts von zwei Milliarden TB-Infizierten und neun Millionen TB-Erkrankten auf der Welt hat Lula doch absolut recht, wenn er weitere Zwangslizenzierungen nicht ausschließt.

Auf dem G-8-Gipfel in Heiligendamm soll das Patentrecht zugunsten der Konzerne „harmonisiert“ werden. Was wollen Sie dagegen tun?

Wir müssen einen Gegenvorschlag des Südens auf den Tisch legen. Ich bin dafür, dass die Interessen der Armen durch internationale Zwangslizenzen „harmonisiert“ werden. Genau darum geht es ja auch auf der morgigen Berliner Tagung zu den Patenten.

Welche internationalen Allianzen sind denkbar?

In Lateinamerika ist die Patent-Diskussion noch sehr schwach. Sie betrifft ja vor allem Brasilien und Argentinien – die anderen Länder haben gar keine eigene Pharmaindustrie. Alle sind sich einig, dass durch Patente der Zugang zu Medikamenten behindert wird, aber bei den praktischen Maßnahmen stehen wir erst am Anfang. Übrigens auch international: Da geht es vor allem um Rechte und Werte, aber kaum um konkrete Aktionen. Besser sieht es in Thailand, Südafrika, Indien und China aus, und vielleicht ist eine Verständigung mit Russland möglich.

INTERVIEW: GERHARD DILGER

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