: Der Sieg der Unschuldigen
LEBEN Wenn ein Mann ohne Schuld Jahre auf seine Hinrichtung gewartet hat, ist er ein guter Kronzeuge gegen die Todesstrafe. So wie Delbert Tibbs. Er hatte Erfolg. Am Freitag wird sie im US-Bundesstaat Illinois abgeschafft
■ Der Termin: Am 1. Juli tritt in Illinois das Gesetz in Kraft, das die Abschaffung der Todesstrafe regelt. Im März hatte es der Gouverneur Patrick Quinn unterzeichnet.
■ Die Vereinigten Staaten: Die Todesstrafe kann dann noch in 34 Staaten verhängt werden. Zudem können Bundesgerichte und das Militär den Tod durch Giftspritze oder den Strick veranlassen.
■ Die Krise: Die Prozesskosten machen die Todesstrafe zur mit Abstand teuersten Strafe, sie kostet im Schnitt mehr als doppelt so viel wie ein „lebenslänglich“. Laut einer Studie schlägt eine einzige Exekution in Maryland mit 37,2 Millionen Dollar zu Buche. In Krisenzeiten ist das selbst bei konservativen Politikern ein Argument.
AUS CHICAGO LENNART LABERENZ
Als der Polizeiwagen dreht und auf Delbert Tibbs zukommt, ahnt der nichts Böses. Es ist ein Tag im Winter 1974 in Mississippi, wo er aufgewachsen ist. Er befindet sich auf dem Weg zurück nach Chicago, wohin ihn seine Mutter als Kind gebracht hatte. Zwölf Jahre war er da. Die Mutter hatte sich mit ihm aufgemacht in die Kälte des Nordens, in der Hoffnung, bessere Jobs zu finden, bessere Schulen, weniger Hass. Mississippi war für sie, für die Schwarzen: Apartheid.
In Chicago im Staat Illinois hatte es Tibbs, 1939 auf einer Plantage geboren, durch die Schule und ins Corporate America geschafft – die weiße Angestelltenwelt. Aber es waren die Sechzigerjahre, Zeiten des Aufruhrs. Er lebte zwischen jungen Schwarzen, die eine Revolution wollten. Weil ihn die Fragen nach Gleichheit und Gerechtigkeit interessierten, die Martin Luther King an die Gesellschaft in den USA stellte, studierte er Theologie. Tibbs begann durch die Staaten zu streifen, lief, trampte, fuhr in Güterwagen. 1972 zog es ihn nach Florida, hin zur grünen Landschaft und zu freundlichen Menschen.
Als sich Delbert Tibbs dann im Februar 1974 aufmacht, zurück zur Familie, kontrolliert ihn ein erster Polizist: Ein Mann werde gesucht, keine einssiebzig groß, mit großer Afro-Frisur. Delbert, heller die Haut, ohne großen Afro, sei wohl nicht der Gesuchte. Der Polizist macht Fotos.
Er ist schon in Mississippi, als ihn wieder Polizisten anhalten. Tibbs befürchtet nichts. „Es war ja auch ein schöner Tag“, erinnert er sich. Doch der Polizist beharrt drauf: „Du bist verhaftet.“ Im Süden werde er gesucht.
„Klar“, sagt Tibbs heute, „ich hätte etwas gegen die Auslieferung nach Florida tun können. Aber ich hatte eine spirituelle Reife erreicht. Ich sah Weiße nicht mehr als Feinde.“ Eine Verwechslung, ganz klar, dachte er. Sie würden ihn freilassen.
Als die Polizei aber eine Gegenüberstellung mit der Zeugin des Mordes veranlasste, hatten die Fernsehstationen und Zeitungen bereits Bilder von ihm gezeigt und verkündet, dass ein Mörder seiner gerechten Strafe zugeführt werde. Bei der Gegenüberstellung hörte er die Zeugin sagen: „Yeah, das ist der Wichser.“ Und Delbert Tibbs, der an ein anderes Amerika geglaubt hatte, wurde zum Tode verurteilt.
Joan Baez besucht ihn
„Ich hatte sehr viel Glück,“ sagt Tibbs, die Stimme tief und rau geschmirgelt von Zigaretten. Delbert Tibbs hat sein Todesurteil überlebt. Und in der kommenden Woche, am 1. Juli, wird in Chicago und in ganz Illinois die Todesstrafe abgeschafft. Es gibt Leute, die sagen, das habe viel mit Delbert Tibbs zu tun.
Bald zwei Meter misst er, Haare und Bart angegraut. Oft zieht er eine Weile an der Zigarette, bis er den nächsten Satz gefunden hat. Dann winkelt er das Bein an: Seit Jahren schmerzen die Füße. Tibbs massiert und nickt: Weite Wege sind sie gelaufen.
Seit 2002 wohnt er in Chatham, Chicago. Stattliche Gebäude, umkränzt von gepflegten Gärten. Hinter einer Methodistenkirche endet die Straße mit einem grauen Betonriegel: ein Seniorenwohnheim.
Tibbs hat zwei Zimmer, siebter Stock, an den Wänden von Freunden Gemaltes. Von hier macht er sich auf zu Konferenzen, Treffen und Aktionen gegen die Todesstrafe.
Der Prozess gegen Tibbs und das Urteil erregten Aufmerksamkeit damals in den Siebzigern. Die Bürgerrechtlerin Angela Davis machte das Urteil zur Cause célèbre, initiierte Demonstrationen. Auch die Sängerin Joan Baez besuchte Tibbs im Gefängnis. Der weiße Herrenmenschenkonsens war nicht mehr zu halten.
Trotz besserer Anwälte dauerte es drei Jahre, bis Tibbs freikam. Trotz der zweifelhaften Zeugin und entlastender Beweise wollte der Staatsanwaltschaft Tibbs bis zuletzt verurteilt sehen.
In den USA sind bislang 139 zum Tode Verurteilte wieder freigekommen. Tibbs war der elfte, dessen Unschuld bewiesen werden konnte: 1977 wurde er nach knapp drei Jahren aus dem Hochsicherheitsgefängnis in Starke, Florida entlassen.
3.261 Häftlinge sitzen zurzeit in den USA in der Todeszelle.
Delbert Tibbs ist einer der Sprecher von Witness to Innocence, einer Organisation, die unschuldig zum Tode Verurteilte über das Land schickt, ihnen in Schulen und Universitäten ein Publikum organisiert.
Tibbs raucht aus dem Autofenster, während er zum Jahrestreffen des Vereins fährt. „Es gibt Leute, die sagen, ich sei die Bewegung gegen die Todesstrafe in Illinois gewesen. Das ist übertrieben. Ich wurde eben früh verurteilt, und es gab eine breite Bewegung für meine Freilassung. Vielleicht haben sich viele Amerikaner meinetwegen mit der Todesstrafe auseinandergesetzt.“
Der Fall Delbert Tibbs hat in den Siebzigern die Gesellschaft aufgerüttelt. Randy Steidl und die Organisation Illinois Coalition against Death Penalty haben zu Beginn des 21. Jahrhunderts weitergekämpft.
Gordon „Randy“ Steidl ist in einer weißen, katholischen Bauernfamilie im ländlichen Illinois aufgewachsen. Er geriet zwischen Mafia und korrupte Staatsanwälte. Anklage: Doppelmord. Sein Alibi wurde von zwei Augenzeugen aufgehoben, „einem Dorfalkoholiker und einer psychisch labilen Frau“, sagt Steidl. Jahre später, bei der Revision seines Falls, fand ein unabhängiger Polizeiermittler eine Quittung über 25.000 Dollar, die die Zeugen für ihre Aussagen von der Polizei erhalten hatten. Fast achtzehn Jahre saß Steidl unschuldig in der Todeszelle. Für die Koalition gegen die Todesstrafe hat er hunderte Kilometer hinter sich gebracht, hat Schulen, Universitäten und Versammlungen besucht. Und die Aktivisten haben die Politiker des Bundesstaates aufgesucht, um sie von einem Gesetz gegen die Todesstrafe zu überzeugen. Kaum ein Gesetz in den USA funktioniert ohne Aktivisten und Lobbyisten.
DELBERT TIBBS, UNSCHULDIG VERURTEILTER
Chicago ist ein wichtiger Ort für die Bewegung gegen die Todesstrafe. Die Männer, die Delbert Tibbs gleich im Konferenzsaal eines Hotels treffen wird, bringen es zusammen auf über 200 Jahre Todeszelle. Sie wurden von Polizisten gefoltert, von Spitzeln ausgeliefert, von angeblichen Zeugen, die selbst mit der Verhaftung bedroht waren, verraten. In den meisten Fällen wurden falsche Zeugen bezahlt, Unschuldsbeweise von der Staatsanwaltschaft unterschlagen, nicht zugelassen oder vernichtet. Die Opfer der Justiz ähneln sich: Sie sind nicht wohlhabend, nicht gebildet, oft schwarz.
Eine Art Klassentreffen
Vor elf Jahren provozierten Gegner der Todesstrafe bereits eine wichtige Entscheidung: Der Konservative George Ryan, bis 2003 Gouverneur von Illinois, ordnete Ende Januar 2000 die Aussetzung der Todesstrafe an – gegen den Protest seiner Parteifreunde. Seit Wiedereinführung der Todesstrafe 1978 waren in Illinois mehr Todeskandidaten wieder freigelassen als hingerichtet worden. Tibbs und andere hatten dem Gouverneur erklärt, dass im ländlichen Illinois die Wahrscheinlichkeit, exekutiert zu werden, fünfmal so hoch war wie in der Stadt Chicago. Ryan wandelte alle Todesurteile in „lebenslänglich“ um und musste zugeben, dass in den USA Unschuldige hingerichtet worden waren.
Es ist dunkel geworden, als Tibbs aus dem Auto steigt. Vor dem Flughafenhotel steht eine Rauchergruppe. Schwere Hände heben sich zum Gruß, Männerschultern schlagen gegeneinander. Tibbs ruft mit tiefer Stimme: „Hey, ihr seht aus wie ein Trupp Exhäftlinge.“ Die Männer lachen, die Atmosphäre gleicht der eines Klassentreffens.
David Keaton stützt sich auf einen Gehstock – er ist der erste zum Tode Verurteilte, dessen Urteil widerrufen wurde. Der Spaßvogel Juan Melendez, der bei seiner Verurteilung kaum Englisch verstand, erzählt gern von den Kakerlaken und Ratten in seiner Zelle. Siebzehneinhalb Jahre musste er auf die Freilassung warten. Wie die andern hat er nie eine Entschuldigung gehört oder eine Entschädigung bekommen.
Eine bittere Ironie ist ihnen allen bewusst – wären sie nur zu „lebenslänglich“ verurteilt, säßen sie noch im Gefängnis. Die Fälle wären von der Öffentlichkeit kaum beachtet und nicht überprüft worden.
Springfield liegt unter einer Schneedecke, die Senatoren in der Hauptstadt von Illinois tragen dunkle Wintermäntel für den kurzen Weg von ihren Limousinen zum Kuppelbau mit dem silbrig glänzenden Zinkdach. Nachdem der Kulturkampf der vergangenen Jahrzehnte im Plenum noch einmal auflebt, fällt dort im Winter 2011 die Entscheidung: Illinois wird die Todesstrafe abschaffen.
Der Senat überweist das Gesetz an Gouverneur Patrick Quinn, einen konservativen Demokraten, der für die Todesstrafe ist. Nach langem Zögern unterschreibt Quinn das Gesetz – 37 Jahre nachdem das Polizeiauto Delbert Tibbs stoppte.
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