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Studenten leiten Kreuzberger um

Landschaftsplaner und Kulturwissenschaftler untersuchen die Gehgewohnheiten am Kottbusser Tor. Erste Erkenntnis: Passanten lassen sich von kleinsten Architekturveränderungen in die Enge treiben

VON CATALIN GAGIU

Vom Kottbusser Tor führt ein langer, düsterer Gang in eine Häuserschlucht vor dem Neuen Kreuzberger Zentrum. Den tristen Tunnel schmückt in dieser Woche eine eigenartige Konstruktion: Weiße Plastikbecher baumeln von der Decke, aufgehängt an goldenen Geschenkbändern. Die äußeren Bänder sind lang, die inneren eher kurz, so dass die pendelnden Becher den hindurchströmenden Passanten einen Teil des Korridors versperren. In der Mitte des Durchgangs entsteht so eine neue Gasse: die – scheinbar – einzige Möglichkeit weiterzugehen.

Ein umgeleiteter Passant beobachtet erstaunt die Szene: „Sieht wie eine Party aus! Oder vielleicht eine Werbemaßnahme der umliegenden Geschäfte“, meint Saman Terim und geht mit einem angedeuteten Schulterzucken weiter. Andere Kreuzberger fragen sich, ob gerade ein Film gedreht wird oder ein Künstler seine neue Kreation präsentiert.

Doch diese Konstruktion soll weder Kunst noch Party sein, im eigentlichen Sinne. Vielmehr handelt es sich hierbei um ernsthafte Wissenschaft. In dem Studienprojekt „Open Spacing“ der Technischen Universität Berlin erforschen Studierende des Studiengangs Landschaftsplanung, gemeinsam mit Kulturwissenschaftlern aus Frankfurt (Oder), das Flanieren am Kottbusser Tor: „Wie beeinflusst die uns umgebende Architektur unser Gehverhalten? Wie kann der öffentliche Raum besser funktionieren? Wie kann eine alternative und natürlichere Landschaftsplanung aussehen?“ seien Fragen, die es zu beantworten gelte, sagt Norman Jans, einer der beteiligten Studenten. Das Ziel sei es, „eine neue Gestaltungsmethode zu entwickeln“, erläutert Jans.

Zu dem Projekt „Open Spacing“ gehören neben der Plastikbecherkonstruktion noch zwei sogenannte „Interventionen“ am Kottbusser Tor. Außerdem wurde am Mauerstreifen hinter der Bundesdruckerei eine Brachfläche umgestaltet.

Die Reaktion der Kreuzberger auf die schwebenden Plastikbecher fällt unterschiedlich aus: Einige greifen verwundert nach den baumelnden Bechern, stoßen diese spielerisch an – andere reißen auch mal einen Becher ab. Viele lassen sich aber von den vermeintlichen Hindernissen zur Mitte des Durchgangs hinleiten. Gruppen, die eben noch gesellig nebeneinander flanierten, zwängen sich hintereinander durch die neu entstandene Gasse. Selbst Fahrradfahrer ducken sich unter den Plastikbechern hindurch.

Für die Studierenden, die das Verhalten der Passanten beobachten, ist das der Beweis, dass die Architektur den Bewegungsfluss des Menschen beeinflusst, „oft auf unnatürliche Weise“, wie Anne-Cécile Jacquot, ebenfalls an der Intervention beteiligt, berichtet. „Wichtig an dem Projekt ist der Kontakt mit den Leuten“, so die französische Austauschstudentin der Landschaftsarchitektur.

Die Studenten präsentieren am Samstag ihre Forschungsergebnisse, ab 11 Uhr am Kottbusser Tor und ab 14 Uhr am Mauerstreifen.

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