: „Ich sterbe jeden Tag hundert Tode“
Zwei Millionen irakische Flüchtlinge versuchen, sich in den arabischen Nachbarländern eine neue Existenz aufzubauen. Die Familie al-Jorani hoffte auf einen Neuanfang in Ägypten. Doch heute verdient der Vater sein Geld wieder in Bagdad
AUS KAIRO KARIM EL-GAWHARY
An der Wand hängt ein Bild aus glücklicheren Tagen in Bagdad. Die klassische Studiofotografie zeigt die Familie al-Jorani, hinten die stolzen Eltern Sahar und Adnan, vorne zwei verschmitzt dreinblickende Jungen und eine nicht weniger pfiffig lächelnde Tochter. Damals blickten sie nichts ahnend der gesicherten Zukunft einer typischen irakischen Mittelklassefamilie entgegen. Der Bauingenieur Adnan sorgte dafür, dass es seiner Familie an nichts fehlte.
Heute bietet sich ein völlig anderes Bild. Die al-Joranis gehören zu den vier Millionen Irakern, die sich derzeit auf der Flucht befinden, zwei Millionen im eigenen Land, und noch einmal dieselbe Zahl außerhalb der Grenzen des Iraks. Die al-Joranis haben es bis in die ägyptische Hauptstadt Kairo geschafft.
Erst sei die Moschee gegenüber ihrem Haus in Bagdad in die Luft gejagt und der Scheich vor den Augen der Kinder ermordet worden, beginnt Sahar ruhig, die lange Liste ihrer Fluchtgründe aufzuzählen. Dann ging eine Bombe neben der Schule der Kinder hoch. Schließlich wurden einige Kollegen ihres Mannes entführt und ermordet. Die Dschihadkämpfer hatten auch Adnan bedroht. Ein Bauingenieur, der sich am Wiederaufbau des Iraks beteiligt, sei ein Verräter, ein Mann der Amerikaner, warnten sie ihn. „Da haben wir unsere Koffer gepackt“, sagt Sahar.
Dass die Entscheidung richtig war, bekamen sie an ihrem letzten Tag in Bagdad bestätigt. Nachdem sie ihr gesamtes Hab und Gut verkauft hatten, erledigten die Eltern ihre letzten Einkäufe, als ihr Auto aus einem vorbeifahrenden Fahrzeug beschossen wurde. „Nur Gott weiß, wie wir da lebend herausgekommen sind“, meint Sahar heute dazu.
Die al-Joranis sind alles andere als ein Einzelfall. „Die irakische Flüchtlingskrise ist die größte Fluchtbewegung in dieser Region seit der palästinensischen Fluchtbewegung 1948“, erklärt die deutsche Katharina Lumpp, stellvertretende Leiterin des Büros des UN-Hochkommissariats für Flüchtlinge UNHCR in Kairo. Pünktlich zum Weltflüchtlingstag in dieser Woche hat die UNHCR ihren neuesten Bericht über weltweite Fluchtbewegungen veröffentlicht. Die Zahl der Flüchtlinge ist danach zum ersten Mal seit fünf Jahren wieder deutlich gestiegen. Eine Zunahme von 14 Prozent wird verzeichnet, Ursache dafür ist die irakische Flüchtlingskrise.
Für Familie al-Jorani erwies sich die Lage im Gastland schwerer, als sie bei ihrer Ankunft im vergangenen Sommer gedacht hatte. Das Land am Nil hat genug Probleme, für seine 80 Millionen Einwohner Schul- und Arbeitsplätze zu schaffen. Da werden die irakischen Flüchtlinge eher als lästig angesehen. Monatelang hatte sich Adnan vergeblich auf die Suche nach Arbeit begeben. „Nach drei Monaten waren unsere Ersparnisse aufgebraucht. Seitdem verkaufe ich Stück für Stück meinen goldenen Hochzeitsschmuck“, erzählt Sahar.
Wie aussichtslos muss die Lage als Flüchtling sein, wenn jemand freiwillig nach Bagdad zurückkehrt, um seine Familie zu ernähren? Zu diesem radikalen Schritt hat sich Amar vor drei Monaten entschieden. Alle paar Tage telefonieren sie. „Was ist heute los bei dir Papa, gab es irgendwelche Explosionen?“, fragt der jüngste Sohn seinen Vater in Bagdad per Handy. Sahar und die Kinder sprechen schnell ein paar Grüße aus, dann legen sie auf. Auch für das Telefonieren haben sie nicht genug Geld. „Ich sterbe jeden Tag ein paar hundert Tode, wenn ich an meinen Mann in Bagdad denke“, sagt Sahar.
Was würde sie ihrem Mann gerne sagen, wenn sie mehr Zeit hätte? Erstmals verliert Sahar, die bis dahin über die jüngste Zeit ihres Lebens nüchtern berichtet hatte, ihre Fassung. Ihre Lippen beginnen zu zittern. „Wir vermissen ihn“, setzt sie an und schluckt. „Alles ist so traurig: In deiner Heimat bist du nicht mehr zu Hause und hier lebst du in der Fremde.“ Tränen verwischen ihre Schminke, die sie sich für das Interview aufgelegt hatte. „Ich bin einfach müde und mit den Nerven fertig“, erklärt sie. Sie hoffe, irgendwann wieder als Familie zusammenzukommen. „Entweder leben wir hier gemeinsam in Kairo oder sterben eben zusammen in Bagdad.“ Dann versagt ihr die Stimme.
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