: Das Stadion fliegt
FUSSBALL Alles dreht sich. Die Gastgeber stehen plötzlich im Gästeblock, die Polizei steht dazwischen. Beim Spiel von BFC Dynamo gegen den 1. FC Kaiserslautern gerät so einiges durcheinander. Eine Erzählung
VON JURI STERNBURG
Warum bin ich noch mal hier? „Alle sind se da, alle sind se da – außer Erich Honecka!“, schallt es aus tausend Kehlen. Das Bier läuft selbige in Strömen herunter und ist zudem noch äußerst günstig. Das ist doch mal ein Grund. Mehrere tausend Familienmitglieder, Bankangestellte, Motorradliebhaber,Vollzeithooligans, Gerüstbauer, Dorfdeppen, Polizisten sowie einige Jugendgangs und mein Freund Paul sehen das wohl genauso.
Es regnet Bindfäden, und das Spielfeld ist wegen der Rauchgranaten nur schwer zu erkennen, fast wie in Stalingrad. Aber was soll’s, solange ich kein Pferdefleisch fressen muss oder meinem Sitznachbarn ein Bein amputieren soll, halt ich’s schon aus. Am Bierstand hake ich nach, ob es noch was anderes als Bier gibt. „Wat denn?“, fragt der Zweimeterhüne am Zapfhahn. Ich weiß auch nicht so genau. „Vielleicht Apfelschorle?“, versuche ich ihn zu besänftigen, seine Halsschlagader puckert schon auffällig. „Pass auf, Klugscheißer“, murmelt er. „Im Wein liegt die Wahrheit, darum trinken wir Bier!“ Besser nicht noch mal nachfragen. Einfach drei weitere Bier bestellen. Eins für Paul, eins für mich, eins für Erich Honecker.
Warum wird die Tatsache, dass Erich nicht erschienen ist, hier eigentlich so betont? „Ganz einfach. Erich hatte nur einen einzigen großen Moment in seinem von Westpornos durchtränkten Leben: als er den Medizinnobelpreis bekam!“ Paul schien meine Gedankengänge verfolgen zu können, vielleicht hatte ich aber auch nur laut gedacht, so etwas passiert mir öfter, gerade wenn ich mit Paul unterwegs bin. „Wofür hat er den gekriegt?“, frage ich scheinbar interessiert. Paul ist schon wieder damit beschäftigt, tätowierten Solariumschnallen hinterherzuglotzen, trotzdem lässt er sich dazu herab, mir zu antworten. „Er hat aus dem Herzen Europas den Arsch der Welt gemacht!“ Jetzt hab ich genug. Die ganze Veranstaltung ist sowieso schon grenzwertig, wenn ich mir jetzt auch noch Pauls bescheuerte Witze anhören würde, dann müsste ich mich irgendwann zu erkennen geben. Als Nichtsympathisant. Als Verächter. Vielleicht sogar als Gegner.
Das erste Tor fällt gegen Berlin. Das ist doch mal ein Grund, hierzubleiben. Des Weiteren hat Paul die gute Ware in der Tasche, und ohne die gute Ware werde ich heute nicht mehr alt. Und alt wollen wir doch alle werden, und wenn es nur dem Zweck dient, miterleben zu dürfen, wie alles im Chaos versinkt. Wenn man nicht alt wird, sollte man vorher wenigstens ein abgefucktes Soul-Album aufgenommen haben oder einen Rockstar erschießen und aus dem „Fänger im Roggen“ rezitieren. Als Berliner unterstützt Paul natürlich sämtliche lokalen Klubs, so hatten wir uns das mal geschworen, er zieht das durch, ich hingegen habe einen klaren Favoriten. Paul ist da anderer Meinung: Außerhalb von Berlin halten Berliner nun mal zusammen, Schluss, aus, fertig. Überzeugt mich zwar alles nicht so richtig, immerhin klingt das nach merkwürdigem Korpsgeist, aber nun bin ich tatsächlich zum ersten Mal hier, im Friedrich-Jahn-Sportpark, beim BFC Dynamo, mit Paul, inmitten von Menschen, die deutlich mehr Tinte als Haare auf dem Kopf tragen und sich dem Motto „Expropriation der Expropriateure“ wahrscheinlich vorbehaltlos anschließen würden.
Das Spiel plätschert so dahin, der BFC liegt 0:2 hinten. „Scheißegal, scheißegal, scheißegal!“, rufen die Sportdesinteressierten. Ich bin verwirrt, aber das ist ja nichts Neues. Vor mir stehen zwei Typen. Der eine trägt eine Thor-Steinar-Jacke mit dem Zusatz: „Kontaktfreudig!“, sein Kumpel ein T-Shirt mit der Aufschrift „Marxismus-Hooliganismus!“ Irgendwie unpassend. Wie wenn Veronica Ferres Schauspielunterricht geben würde. Warum jetzt die Ferres eigentlich? Und was war in der Wasserflasche, die Paul mir mit hämischem Grinsen gereicht hat? GHB? MDMA? Auf jeden Fall bin ich jwd. „Paul, was war das? In der Flasche, Paul?“ Meine Verwirrung nimmt überhand, dazu kommen noch das Bier, die aufgepeitschte Stimmung, ungezählte Zigaretten und der Schlafmangel. Das Stadion beginnt sich zu drehen. Noch kann ich es ab und zu anhalten, aber von Mal zu Mal wird es schwerer, den Brechreiz zu unterdrücken, wenn wir mal wieder eine Vollbremsung hinlegen. Das Gefühl, das Stadion fährt. Man wacht auf, macht die Augen auf: Das Stadion fährt. Nachmittags, wenn die Sonne reinscheint, bleibt es plötzlich stehen. Man kann das Gefühl des Fahrens nicht absetzen. Paul findet, es sei unpassend, an solch einem Ort Ulrike Meinhof zu zitieren.
Ulrike Meinhof kann mir jetzt aber auch nicht helfen, das Stadion dreht und dreht sich, plötzlich ist der Block des BFC auf der anderen Seite. Nicht dass die gegnerischen Fans ebenfalls die Seiten gewechselt haben, sie stehen unpassenderweise immer noch dort, wo man sie einst mithilfe von Platzkarten abgestellt hat. Erst jetzt begreife ich, dass nicht das Stadion sich gedreht hat, sondern die Zuschauer nur die Seiten gewechselt haben, um die mitreisenden Anhänger des 1. FC Kaiserslautern zu besuchen. Die ARD wird später sagen, die Berliner seien provoziert worden, schließlich hätten die anderen mit weißen Taschentüchern gewunken und „Auf Wiedersehen!“ gerufen, aber die ARD sagt so einiges, wenn die „Tagesschau“ lang ist.
Paul ist weg. Er ist anscheinend ebenfalls längere Zeit in die Luft gesprungen, just in dem Moment, als das Stadion sich gedreht hat, auch er ist im Gästeblock. Ich frag mich, ob er seine Bewährung schon abgesessen hat. Er hatte damals Glück gehabt, theoretisch hätte er auch einige Monate einwandern können, aber die Richterin hatte Sympathien für ihn, denn Paul war der Nachkomme einer Theaterdynastie, und die Richterin ging gern ins Theater. Einmal verurteilte sie ihn, um ihn danach zu fragen, ob er ihr eventuell Premierenkarten für „Othello“ besorgen könnte. Paul antwortete, das mit dem „Besorgen“ würde er wohl hinkriegen, nur ob er auch Theaterkarten kriegen würde, das wäre fraglich. Aus moralischen Gesichtspunkten ist spätestens jetzt der Zeitpunkt gekommen, das Weite zu suchen. Aber wie das Weite suchen? Ich hatte Heimweh nach einem Ort, den ich nicht kannte.
Im Stadion ist das organisierte Chaos ausgebrochen. Polizeieinheiten kämpfen sich durch die Massen, in Maßen kämpft man auch gegen die Polizeieinheiten. Ein massiger Polizist fällt zu Boden, zack, bum, Helm weg, Knüppel weg. Irgendwie sieht er nun harmlos aus. Weiter vorne diskutieren die Familienväter mit dem Einsatzleiter. So sieht Demokratie aus. Das Zeug aus der Wasserflasche zeitigt nun endgültig seine Wirkung. Das Stadion hat sich inzwischen in eine dieser aberwitzigen Rummelattraktionen verwandelt. Es fliegt auf und ab und dreht sich dabei beständig im Kreis, während ein Marktschreier bereits die nächste Runde anpreist. Paul und ich stehen in der Mitte und gleichen die ruckartigen Bewegungen unserer Umwelt durch gazellengleiches Dahingleiten aus, während wir in Großbuchstaben „Ihr habt uns in Beton geboren, und nun wundert ihr euch, dass wir mit Steinen schmeißen“ auf den Rasen schreiben. Die Spieler halten den weißen Schriftzug für die neuen Außenlinien und versuchen verzweifelt, in dem Labyrinth aus Linien einen ordentlichen Doppelpass zu präsentieren, was ihnen nicht gelingen will. Die Zuschauer fallen um wie beim Domino Day. In der Kurve stehen einige Glatzen und brüllen sich die Seele aus dem Leib: „Nazi-analer Widerstand heißt Doggystyle!“ Jemand klopft mir auf die Schulter. Ich springe auf die Flutlichtanlage und trommle mir wie King Kong auf die Brust. Das Klopfen hört nicht auf. Jetzt wird es zu einem Schütteln. „Paul. Paul, Paul!“, tönt es von Weitem.
Ich mach die Augen auf. Mein Mund ist trocken, die Spucke läuft mir bereits vom Mundwinkel bis zum Kehlkopf hinunter. „Wach auf, das Spiel ist schon lange vorbei, Paul!“ Ich blinzle in die Abendsonne, meine Sonnenbrille ist verschwunden „Wie ist es denn ausgegangen?“, frage ich. „0:3 verloren. Los, Paul, mach hinne, ich will nach Hause, die Katze füttern!“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen