: „Entfremdung: Das kann ich gut verstehen“
STADTENTWICKLUNG Auf der Suche nach Geschichte zog es den US-Amerikaner John Czaplicka 1974 nach Berlin. Als er kürzlich zurückkam, stellte er fest, dass viele Nachbarschaften aus der Innenstadt verdrängt wurden
■ wurde 1950 in Dearborn/Michigan geboren. Er studierte Kunstgeschichte in Chicago und lehrte zuletzt an der Harvard-Universität. Berlin kennt er seit Langem.
PROTOKOLL UWE RADA
Unlängst hat mir eine Bekannte, die ich sehr schätze und bewundere, gesagt, ich sei ignorant. Was habe ich gemacht? Ich habe gesagt, ich sei ein Berliner. Für sie war das aber ein Synonym dafür, dass die Amerikanisierung der Stadt und ihre eigene Entfremdung inzwischen weit vorangeschritten seien. Und nun komme ich, ein Amerikaner, plötzlich daher und behaupte: Ich bin ein Berliner.
Ich habe eine lange Geschichte mit der Stadt. Zuerst bin ich 1974 nach Berlin gekommen. Ich war Kunsthistoriker in Chicago und bin nach Göttingen gegangen, um Deutsch zu lernen. Per Anhalter bin ich dann nach Westberlin gefahren. Ich war enttäuscht, weil es in dieser Stadt nichts Altes gab. Berlin schien mir sehr ähnlich einer Industriestadt im Mittleren Westen, also Detroit oder Chicago, zu sein. Also suchte ich Geschichte in der Stadt und bin ins Stadtzentrum, das damals im Osten lag. Eine völlig andere Welt, andere Farben, alles grau und dunkel und viel älter als der Westen. Dazwischen aber die großen, sozialistischen Plätze, eine große Leere zwischen monumentalen Gebäuden.
Die alten Wege waren weg
Als die Grenzen nach dem Mauerfall weg waren, hatte ich Schwierigkeiten, mich zu orientieren. Davor gab es für mich immer nur zwei Eingänge nach Ostberlin, die Friedrichstraße und den Checkpoint Charlie. Das war wie ein Trichter, von dem aus ich dann den Rest erkundet habe. Als ich später, zu Neujahr 1990, wieder rüber bin, fiel es mir schwer, mich zu orientieren. Warum? Die Trichter war weg und damit auch meine alten Wege. Ich musste die Stadt wieder neu kennenlernen, vor allen an den Stellen, an denen sie zusammenwuchs.
Heute stelle ich fest, dass alle meine Freunde im Osten mehr oder weniger verschwunden sind. Die meisten sind weg aus der Innenstadt, viele wurden verdrängt. Deshalb kann ich auch das Gefühl der Entfremdung gut verstehen, das meine Bekannte zum Ausdruck gebracht hat. Ich selbst habe darüber einen Kongress an der Harvard-Universität veranstaltet. Meine These war: Wer die DDR-Moderne abreißt, nimmt den Leuten ihre Geschichte. Ich war früher oft im Palast der Republik zum Bowling. Warum reißt man den ab und baut stattdessen ein Schloss? Idiotisch, ein Hirngespinst. Warum so viel Revival, wo es schon damals um Survival geht? Berlin ist eine Stadt der Zuwanderung, auch aus Osteuropa. Und wenn man schon in Mitte was hätte abreißen sollen, dann den Dom. So ein hässliches, wilhelminisch-byzantinisches Protzding, das gehört überhaupt nicht in die Schinkel-Umgebung.
Auf der anderen Seite war Berlin schon immer eine Buddelstadt. Im 19. Jahrhundert wurde es Weltstadt, es gab zwei Weltkriege und die Teilung, es war immer eine andere Stadt hinterher. Aber das entschuldigt natürlich nicht, dass die Stadtpolitik nach der Wende wenige Angebote an die Ostberliner machte. Bis heute kann man feststellen, dass diese Teilung in den Köpfen noch da ist.
Berlin hat sich sehr verändert in den 15 Jahren, in denen ich zuletzt nicht hier gelebt habe. Als ich zurückkam, habe ich festgestellt, dass es die Eckkneipen nicht mehr gab. Stattdessen sind jetzt überall Spätis. Weg sind auch viele Nachbarschaften, sie wurden von der Gentrifizierung einfach auseinandergetrieben.
In den Staaten sind es vor allem die jungen Leute, die von Berlin elektrisiert sind; für sie ist Berlin eine „fun city“. Eine Stadt, in die man fahren kann, um die Nächte durchzumachen. Berlin hat jetzt die Rolle, die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs Prag oder später Krakau hatten.
Und dennoch bin ich ein Berliner. Ich fühle mich hier zu Hause. Ich kenne mich in Berlin aus. Ich weiß nicht nur, wie ich von einem Ort zum andern komme. Ich kenne die Geschichte der Stadt. Ich weiß, wie vielschichtig die Geschichten der Berliner sind. Ich weiß, wie sich die Stadt verändert. Berlin ist eine Industriestadt gewesen, das hat sie geprägt.
Vielleicht fühle ich mich auch deshalb hier so zu Hause, weil ich dieses Raue und Offene auch aus Detroit und Chicago kenne, wo ich lange gelebt habe. Aber auch in Chicago oder in Boston habe ich mich nie so zu Hause gefühlt wie in Berlin.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen