: Es passiert genau jetzt
GEDENKEN Bei der Mahnwache in Berlin vergewisserte sich das politische Deutschland seiner selbst. James Gromis ist auch dabei. Der Elfjährige will Gesicht zeigen
JOACHIM GAUCK, BUNDESPRÄSIDENT
AUS BERLIN ANJA MAIER
James ist mit seiner Mutter hier. Der Elfjährige hat zu Hause in Berlin-Charlottenburg noch eine rote Weihnachtskerze in ein Marmeladenglas gestellt. Das Glas hat er beklebt. „Je suis Charlie“ steht auf der einen Seite, „Gesicht zeigen“ auf der anderen. Dann sind sie los. Jetzt flackert die Kerze im Glas.
James Gromis und seine Mutter Katja sind zwei von 10.000 Demonstranten, die am Dienstagabend zum Brandenburger Tor gekommen sind. Muslimische Verbände haben zu einer Mahnwache für die Opfer der Terroranschläge von Paris aufgerufen, James wollte unbedingt dabei sein. Aufgeregt erzählt er, wie er den Tag des Anschlags erlebt hat. Wie er aus der Schule kam und erfuhr, dass in Paris Menschen überfallen und getötet worden waren, von bewaffneten Islamisten.
In Paris war er erst letztes Jahr mit seinen Eltern. Da habe er sich gefragt, wie so was überhaupt passieren kann. „Wir sind doch hier in Europa.“ Er wollte aber auch hierherkommen, weil er sich für Geschichte interessiert. „Und Geschichte passiert hier doch gerade, oder?“
Tatsächlich ist dieser Abend vor dem Brandenburger Tor ein Moment, an den möglicherweise noch zu denken sein dürfte, sollten aus den Rissen in der demokratischen Tektonik dieses Landes Brüche werden. Wenn der Terror die Angst immer stärker befeuert und die Gesellschaft sich zu spalten beginnt. Auch um das zu verhindern, gilt diese Mahnwache am geschichtsträchtigen Ort der Selbstvergewisserung zwischen der Politik und den Bürgern. James Gromis ist einer von ihnen.
Vorn auf der Bühne haben sich die Vertreter von Politik und Religionen versammelt. Angela Merkel ist gekommen, Bundespräsident Joachim Gauck, Berlins Regierender Bürgermeister, PolitikerInnen aller Bundestagsfraktionen, Vertreter der Muslime und Juden, der Katholiken und Protestanten. Auch der französische Botschafter steht dort. Der Abstand zu den Demonstranten ist gering. Auch dies ein Zeichen: Wir sind uns nahe.
Kurz vor 18 Uhr tritt ein islamischer Prediger ans Mikrofon. Er trägt Koranverse vor. Sure 5 lautet: „Wer ein menschliches Wesen tötet, ohne dass es einen Mord begangen oder auf der Erde Unheil gestiftet hat, so ist es, als ob er alle Menschen getötet hätte.“ Der anschwellende Ton, die brechenden Worte hallen über den Platz. Die Menschen werden still.
Direkt hinter dem Prediger steht jemand, den man hier eher nicht erwartet hätte. Christian Wulff, gescheiterter Bundespräsident, hatte 2010 in seiner Antrittsrede erklärt: „Der Islam gehört zu Deutschland.“ Nun, fünf Jahre später, hat sich die Bundeskanzlerin Wulffs Satz zu eigen gemacht und ihn wiederholt. Beide stehen auf der Bühne in der ersten Reihe, nur durch wenige Plätze getrennt. Alles ist Chiffre an diesem Abend.
Nach der Koranlesung sprechen Vertreter der Politik und der Religionsgemeinschaften. Der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime, Aiman Mazyek, sagt, bei aller Kritik an Inhalten müssten Journalisten, Künstler und Satiriker die Freiheit haben, das Wort zu erheben. „Die Täter haben den Islam in den Schmutz gezogen.“
Abraham Lehrer, Vizepräsident des Zentralrats der Juden, forderte die Muslime in Deutschland auf, gegen den Terrorismus vorzugehen. Im Islam gebe es eine immer stärkere Radikalisierung, davor dürfe man die Augen nicht verschließen. „In Frankreich wurden Zeichner ermordet, weil sie für die Meinungs- und Pressefreiheit eintraten. Es wurden Polizisten ermordet, weil sie diese Menschen schützten. Und es wurden Juden ermordet – weil sie Juden waren.“ James Gromis hat seiner Mutter das Kerzenglas gereicht. Er will die Hände frei haben, um immer wieder zu applaudieren. Er findet es gut, sagt er, „dass hier alle ihre Haltungen zeigen“.
Schließlich, nach einer Schweigeminute für die 17 Opfer des Terrors, tritt der Bundespräsident nach vorn. Joachim Gaucks Rede ist kurz, er findet die richtigen Worte.
Er ruft alle Menschen in Deutschland unabhängig von Religion und Herkunft zum Einsatz für Demokratie und Weltoffenheit auf. Die Attentate von Paris hätten gezeigt, wie verwundbar die offene Gesellschaft ist, sagt Gauck. „Aber sie haben auch bewirkt, dass wir uns neu besinnen. Die Terroristen wollten uns spalten. Erreicht haben sie das Gegenteil.“
Immer wieder während Gaucks Rede brandet Applaus auf. Nicht laut, eher bedächtig und selbstvergewissernd. Gauck kommt auf die Vielfalt der deutschen Einwanderungsgesellschaft zu sprechen. Sie beziehe „ihre Stärke gerade auch aus den Unterschieden“. Nicht übersehen und auch nicht beschönigen dürfe man jedoch die zunehmende Fremdenfeindlichkeit, „die wir seit Langem kennen“.
Hinzugetreten seien nun fundamentalistische Strömungen. Junge Männer aus Deutschland seien im Namen des Islam in den Krieg gezogen. „Was für ein Missbrauch! Was für eine Pervertierung von Religion!“, sagt das Staatsoberhaupt. „Wir schenken euch nicht unsere Angst. Euer Hass ist unser Ansporn.“
Vorn auf der Bühne sitzt jene Frau, auf die in diesen Tagen alle schauen. Angela Merkel spricht nicht, sie hat die Hände ineinander gelegt und hört aufmerksam zu. Ihre Jahre des politischen „Weiter so!“, des Aussitzens und Abwartens, sind gezählt. Sie weiß das. In Ostdeutschland wird Pegida von Extremisten unterwandert; die europafeindliche AfD ist in die Landtage eingezogen. Der Hass gegen alles Fremde wächst: Muslime, Flüchtlinge, Homosexuelle, Journalisten.
An diesem Abend vor dem Brandenburger Tor geht es um die Selbstvergewisserung der Demokraten. Um eine innere Verbindung. „Wir alle sind Deutschland“, ruft Joachim Gauck seinen Zuhörern zu. Er will jetzt, dass diese Verbindung sichtbar wird. Alle auf der Bühne sollen sich unterhaken und auf diese Weise ihr Zusammenstehen für Demokratie zeigen. Es gibt ein bisschen Geschiebe und Gedränge da vorn – die Deutschen, sie haben es nicht so mit den warmen, den ganz großen Gesten.
James Gromis reckt den Hals, durch eine Lücke in der Menge sieht er, was da vorne passiert. Geschichte passiert. Genau jetzt.
„Es ist nicht so, wie Pegida sagt, dass die Politiker nichts machen“, sagt er, als es vorbei ist und die Demonstranten sich auf den Heimweg machen. Und: „Ich bin froh.“
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