: Kein Orden von diesem Staat
Heute sollte die pensionierte Hamburger Lehrerin Christel Seiler für ihre Flüchtlingsarbeit das Bundesverdienstkreuz bekommen. „Ich kann mich nicht darüber freuen“, schrieb sie dem Bundespräsidenten zurück. Solange die deutsche Politik ihre Arbeit behindert, will sie seine Ehrung nicht haben
von FRIEDERIKE GRÄFF
Christel Seiler wird morgen um elf Uhr nicht den roten Rock anziehen. Sie wird nicht ins Schloss Bellevue fahren und Bundespräsident Köhler wird ihr nicht die Schleife mit dem Bundesverdienstkreuz überreichen. Denn am Montag hat sie ihm einen Brief geschrieben: „Sehr geehrter Herr Bundespräsident“, so beginnt er. „Hätte ich eine Schatzkiste, läge in ihr der Brief Ihrer Kanzlei vom 22.10.“ Sie schreibt, dass der Orden, den er ihr für ihre Arbeit mit Flüchtlingen in Hamburg verleihen wollte, eine wohltuende Belohnung gewesen wäre. Und dass sie ihn nicht annehmen wird. „Warum? Unser Bemühen ist immer wieder an der Ausländerpolitik in unserer Bundesrepublik gescheitert.“
Der Ursprung dieses Bemühens liegt in ihrer eigenen Familie. Eines der vier Kinder wurde als kleines Kind schwer krank und besuchte in der Folge eine Förderschule. Christel Seiler lernte dort Menschen kennen, die sich anders als sie, die Grundschullehrerin, nicht wehren konnten, wenn ihre Kinder nicht so gefördert wurden, wie es hätte sein sollen. Die ähnlich hilflos waren wie ihre aussortierten Kinder. Zehn Jahre lang hat Christel Seiler für die Förderschulen gekämpft, ganz praktisch, indem sie Musik mit den Kindern machte, und auf politischer Ebene im Kreiselternbeirat.
Die erste im Dorf mit Abitur
Man glaubt sofort, dass sie dort überzeugend war in ihrer Hartnäckigkeit. Christel Seiler war das zweite von vier Kindern auf einem Hof in Schleswig-Holstein und das erste Kind im Dorf, das Abitur gemacht hat, der ganze Ort hat daran Anteil genommen. Christel Seiler hat Abitur gemacht, die Geschwister nicht. Es scheint sie noch heute, fast 60 Jahre später, zu beschäftigen, wie es dazu kommen konnte, dass man das musikalische Talent ihrer Schwester nicht erkannte, nur sehen wollte, dass sie Schwierigkeiten in Latein hatte. Wie ein Lehrer auf dem Gymnasium zu ihrem Bruder sagen konnte, „Kein Wunder, du kommst ja aus dem Stall“, und der prompt das Handtuch warf.
„Bei uns zu Hause gab es wenig Bücher“, sagt sie in ihrem Wohnzimmer in Hamburg-Öjendorf, das voller Bücher und Weihnachtssterne und Holzengel und Krippenbilder ist. Die großen Weihnachtssterne sind eine Tradition der Herrnhuter Brüdergemeine, einer Freikirche, zu der sie und ihr Mann gehören. Die Leute fragen oft, „woher ist diese Kirchenfrau so rebellisch?“, sagt Christel Seiler. Vielleicht wissen die Leute nicht, dass sich die Brüdergemeine unter anderem auf Jan Hus beruft, einen Mann, der 1415 als Ketzer verbrannt wurde.
Die schönste Zeit
Christel Seiler wurde Grundschullehrerin in Hamburg-Wilhelmsburg, einem Stadtteil, wo sie auf die Menschen traf, die sie immer wieder treffen würde: Solche, die sich alle Möglichkeiten selbst erkämpfen müssen und wenig Rüstzeug für diesen Kampf bekommen. Nach der Kinderpause brachte sie Schülern aus nicht-deutschen Familien Deutsch bei. „Es war die schönste Zeit meines Lebens“, sagt sie darüber. Sie hatte alle Freiheit und kein Lehrbuch.
Als nur noch ein Kind in der Familie zu versorgen war, fand Christel Seiler eine Arbeit als Deutschlehrerin an der Volkshochschule im Arbeiterviertel Billstedt. 15 Jahre lang unterrichtete sie dort, und dass ausschließlich Frauen in ihren Kursen waren, hat manches erleichtert. „Sie konnten sich dadurch leichter mitteilen“, sagt Christel Seiler. Wenn sie fünfmal korrigiert hatte: „Es muss ,Ich habe gesagt‘ heißen, dann konnte die Schülerin antworten: „Christel, mein Kopf ist voll“ und erklären, warum das so war.
Wo sind die Christen?
Die Arbeit, für die Christel Seiler später Medaillen, Preise und fast auch den Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland bekommen hat, begann mit einer Absage. Eine Iranerin lud sie zu einem Abendessen zu sich nach Hause ein. „Es tut mir leid“, sagt ihr die praktisch denkende Christel Seiler. „Wenn ich jetzt zu dir komme, werde ich den Rest des Monats damit verbringen, die anderen Frauen zu besuchen.“ Die Iranerin war Christin und unter anderem deshalb aus ihrem Heimatland geflohen. „Ich würde hier gern andere Christen kennen lernen“, sagte sie. „Ich frage mich, wo sie sind“, sagte sie und das lag nicht nur daran, dass die Kirche in der Gemeinde keinen Kirchturm hatte.
Christel Seiler ging das nicht aus dem Kopf, sie sprach mit ihrem Mann bei einem Spaziergang darüber, traf dabei auf ein befreundetes Ehepaar und dabei entstand die Idee einer Patenschaft zwischen deutschen und nicht-deutschen Familien. „Aktion Brückenschlag“ nannten sie das Projekt in der evangelischen Kirchengemeinde Schiffbek und Öjendorf. Mit der Zeit waren es 80 Leute, die sich trafen, zusammen aßen oder einen Ausflug machten und heute, fast zwei Jahrzehnte später, kommen immer noch zehn von ihnen zusammen, auch wenn die Jungen das nicht verstehen.
Die ernüchternde Wirklichkeit
Mit der Zeit war Christel Seiler immer mehr und immer häufiger unterwegs, um die Sache von Flüchtlingen zu vertreten. Sie schloss sich dem Arbeitskreis Kirchenasyl an, half ehrenamtlich in der Flüchtlingsunterkunft Mattkamp, gründete den „Allerweltfrauentreff“ , damit die Frauen, die in ihren Kursen mühsam Deutsch lernten, auch einmal auf Deutsche trafen und nicht nur am Schultisch Dialoge ausprobierten. Sie ging mit auf die Ausländerbehörde und zu Wohnungsbesichtigungen, wenn die Familien aus Mattkamp versuchten, endlich so etwas wie Privatsphäre zu bekommen. Manchmal half es, manchmal nicht.
Die Erfahrungen machten sie vielleicht nüchterner, in jedem Fall politischer. Für den ersten Politisierungsschub hatten die Kinder gesorgt. Eine Tochter hatte sich in der Schule geweigert, sich an einen Tisch zu setzen, auf den jemand mit Filzstift geschrieben hatte: „Advent, Advent, ein Türke brennt, erst einer, zwei, drei, vier, dann seid ihr nicht mehr hier.“ Die Lehrer verstanden das nicht, sie sahen auch keine Notwendigkeit, den türkischen Putzfrauen, die den Tisch putzten, etwas dazu zu sagen. Die Kinder hielten unverträgliche Abiturreden und sie nahmen die Eltern mit zu den Demonstrationen nach Wackersdorf.
Der Zorn der Autonomen
Im Büro des Flüchtlingsrats traf Christel Seiler auf Autonome, denen die kirchlichen Vertreter viel zu konservativ und staatstreu waren. „Es war eine Lehrzeit“, sagt sie dazu, aber eine, in der einige aus der Arbeit ausstiegen. Sie selbst fand es wichtig zu sehen, wie diese Leute „alles daran setzen, um den Scheiß-Staat aufzumischen“. Sie selbst empfindet sich noch immer als Teil dieses Staates, wie sonst könnte sie dem Bundespräsidenten schreiben, dass sie sich für den Staat schämt. Sie schämt sich, wenn sie mit einer fünf-köpfigen Flüchtlingsfamilie eine Wohnung ansieht, die diese aber nicht anmieten darf, weil die Ausländerbehörde bei drei Kindern eine Vier-Zimmer-Wohnung verlangt.
Früher konnte sie die Flüchtlinge oft selbst beraten, aber die Regelungen und Anforderungen sind so undurchdringlich geworden, dass sie sie oft nur noch an den Anwalt verweisen kann. Und selbst die winken oft ab. Man muss sehr gut eingearbeitet sein, um zu wissen, dass ein 20 Quadratmeter großes Zimmer als teilbar gilt und dann auch eine Drei-Zimmer-Wohnung von der Behörde akzeptiert werden kann. Es beschämt sie, wenn sie vor einer afghanischen Familie steht, deren 18-jähriger Sohn alleine abgeschoben werden soll. „Dass zuerst die ledigen jungen Männer gehen müssen, kann ich ja noch verstehen“, sagt sie. „Auch wenn ich es nicht billige.“ Aber warum will ein Land, das händeringend qualifizierte Arbeitskräfte sucht, einen fließend Deutsch sprechenden Abiturienten abschieben und dabei von Eltern und Geschwistern trennen?
Vielleicht hätte das noch nicht gereicht, um dem Bundespräsidenten den Absagebrief zu schreiben. Christel Seiler hatte ein zweifelndes Gefühl, als sie die Ankündigung bekam, auf Bütten mit goldenem Adler, aber natürlich hat sie sich auch gefreut. Sie hatte mit ihrem Mann schon die Opernkarten bestellt und den roten Rock herausgesucht, den sie einmal aus einem Paket herausgefischt hat, das ihre Tochter für die Kleiderspende geschickt hatte.
Man schottet sich ab
Aber dann hat sie bei einem Vorbereitungsabend für einen Gottesdienst die Schilderungen der Mitarbeiter von Cap Anamur gehört, der Flüchtlingshilfsorganisation. Natürlich wusste sie schon vorher, dass die EU eine Abschottungspolitik betreibt. Dass sie möglichst wenig Flüchtlinge in ihre Länder kommen lassen will. Aber sie hatte nicht oder nicht mehr vor Augen, dass die Reedereien ihren Schiffen mittlerweile Anordnung geben, keine schiffbrüchigen Flüchtlinge mehr aufzunehmen, weil die Schiffe anschließend zu lange in den Häfen festgehalten werden.
Dass die EU-Küstenwache die winzigen Fischerboote sofort zurück in internationale Gewässer schleppt. Dass die Fischer in den Flüchtlingsländern nicht länger Schlepperdienste machen, weil es ihnen zu riskant ist. Statt dessen überlassen sie für viel Geld klapprigste Schiffe an Menschen, die weder steuern noch schwimmen können.
„Du wirst den Preis nicht annehmen“, hat ihr Mann auf dem Rückweg gesagt. Ein paar Tage später hat sie sie den Brief an den Bundespräsidenten geschrieben. Die Kinder und Enkel fanden es schade, sie hatten sich auf Berlin gefreut. Die weiter weg stehenden haben es verstanden. Heute abend wird die Familie zum Chinesen um die Ecke gehen. Das Essen wird nicht so gut sein wie in Schloss Bellevue, aber es gibt einen großen Nachbarraum, wo die Enkel Räuber und Gendarm spielen können. Der Bundespräsident hat noch nicht zurückgeschrieben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen