■ In der Bonner Koalition herrscht ein Jahr vor der Wahl Endzeitstimmung. Kohl bleibt nur eine Hoffnung: der Euro: Die Fallen der Selbsttäuschung
Man sollte aufhören, von einer Krise der Regierung zur reden. Ihre Lage ist schlimmer, als sie selbst vermutet, aber nicht so hoffnungslos, wie es Lafontaine, Schröder und Genossen gerne hätten. Unter der Bonner Bühne gähnt ein Abgrund, den der Begriff „Krise“ eher verharmlost als beschreibt. Gleichwohl kann sich die Regierung Kohl aus der innen- und gesellschaftspolitischen Falle, in die sie sich manövriert hat, noch rechtzeitig befreien – wenn der Kanzler mit seinem Projekt, dem Euro, Erfolg hat.
Die Masken der Selbsttäuschung
Mit der Politik ist es wie mit der Gesundheit. Krisen können überwunden werden. Eine Grippe, eine Blinddarmentzündung, selbst eine Herzoperation sind irgendwann einmal überstanden, und dann geht es, wenn man Glück hat, in alter Frische wieder weiter. Nichts dergleichen läßt sich über das Bündnis aus CDU, CSU und FDP behaupten. Die Haushaltsdebatte in der letzten Woche war ja keine Ausnahme, sie hat vielmehr die Regel bestätigt, nach welcher der politische Prozeß nun schon seit Jahren läuft. Gemeinsam kurieren Regierung wie Opposition an Symptomen, tabuisieren die Ursachen für die Probleme und inszenieren statt dessen fürs Publikum, was sie wohl für eine politische Debatte halten. Man kann es vorhersagen: Immer wieder neue Rekordmeldungen über die Arbeitlosigkeit. Immer wieder Überraschung allerseits, daß deshalb die Einnahmen sinken und die Ausgaben steigen. Immer wieder die gleichen Tricks („kreative Buchführung“) des Finanzministers. Befreien könnte die Regierung – wenn es dafür nicht schon zu spät ist – das öffentliche Eingeständnis, daß die Arbeitslosigkeit kein konjunkturelles Problem ist. Daß hinter keiner Ecke nach keinem Regierungswechsel eine „Halbierung der Arbeitslosigkeit“ wartet. Daß wir es vielmehr mit einer gesellschaftlichen Wende zu tun haben wie zu Beginn der Industrialisierung – und daß die Folgen dieses Strukturwandels ziemlich resistent sind gegen die alten politischen Arzneien.
Die SPD kann bis zur Wahl die Wirklichkeit verdrängen und damit auch Erfolg haben. Die Regierung steckt in der Falle der eigenen Selbsttäuschung, daß alles nicht so schlimm sei und schon wieder gut werde. Wirklichkeiten, die verdrängt werden, man weiß es aus der Neurosenlehre, melden sich eines Tages um so brutaler zurück. Die CDU findet sich nun ausgerechnet ein Jahr vor der Wahl in einer Situation wieder, in der die klassischen Auswege (mehr Schulden, höhere Steuern, geringere Leistungen) versperrt sind.
Endzeitstimmung
Aber auch wenn sich nichts mehr bewegt, kann man sich noch erinnern. Es ist diese Erinnerung an ein halbes Wunder, die der CDU noch einen Rest von Zuversicht gibt. Im Jahre 1994 ist es Helmut Kohl gelungen, eine Wahl noch einmal herumzureißen, die alle schon für verloren hielten. Was vielen erst jetzt wieder dämmert: Es waren gerade einmal 0,3 Prozent, die die Koalition vorne lag. Der langfristige Trend (Verluste für die CDU von 7,3 Prozent zwischen 1983 und 1994) setzte sich unvermindert fort. Bei der nächsten Wahl reicht es für die Koalition nicht einmal mehr, ihre Bestände zu sichern, sie müßte den Trend umkehren. Aber wie soll das geschehen, so fragen sie in den eigenen Reihen, wo doch keine Trendwende auf dem Arbeitsmarkt in Sicht ist, dafür aber der Bonus der Bürgerlichen, mit dem Geld der Steuerzahler solide umzugehen, in Waigels Händen zusehends schmilzt? Es ist dieser Zweifel, der sich in Partei und Fraktion frißt – und der sich schon damit zu trösten beginnt, sechzehn Jahre ein Kanzler, eine Mehrheit, eine Koalition sei doch eine ganz schöne Zeit gewesen. Endzeitstimmung in Bonn.
Erklärungsnotstand
Wähler wollen bei jeder Wahl immer wieder von neuem überzeugt werden, warum sie gerade dieses Mal CDU (oder SPD, Bündnisgrüne ...) wählen sollen. Auf diese Frage aber hat die CDU, anders als früher, keine plausible Antwort mehr. Nach 1982, im ersten Drittel der Ära Kohl, machte es noch Sinn, nach Jahren des „Nullwachstums“, von der „Erblast der SPD“ zu reden; nach den turbulenten 70ern mit Rolf Zundel oder Hans Magnus Enzensberger das „Lob der Normalität“ zu singen oder nach all den Befürchtungen die Ost- und Entspannungspolitik einfach fortzusetzen. Das war eine plausible, erfolgreiche Mischung. Im zweiten Drittel seiner Amtszeit hat die deutsche Vereinigung sich selbst – und den Kanzler legitimiert.
Seit fünf Jahren aber ist es der Regierung nicht mehr gelungen, ihre Poltiik auf einen Begriff zu bringen. Doch die Zeit der sprachlosen Gewißheiten ist abgelaufen. Jetzt müßte man erklären und überzeugen: Probleme und Zusammenhänge, Reformen und intelligente Ziele. Eine Zeitlang sah es so aus, als ob der Rhetorik der Reform auch eine entsprechende Politik folgen könnte. Das Ergebnis ist bekannt. Am Ende wird sich, nach dem Theater dieses Sommers, die Kabinettsreform darauf beschränken, für die CSU ein „Äquivalent“ für den Postminister zu finden. Und die Renten„reform“ darauf, den einen keine höheren Beiträge und den anderen keine Nullrunde zuzumuten. Regierung wie Opposition würden am liebsten auf allen Gebieten die Fackel der Reformen durch die Menge tragen, ohne irgendeinen alten Bart anzusengen.
Die Endzeitstimmung in den eigenen Reihen, der Notstand einer Regierung, der es schwerfällt zu erklären, warum man/frau sie wählen soll – all das zeigt mehr an, als die Krise einer Partei, eines politischen Bündnisses. Und trotzdem könnte das Totenglöcklein für die Regierung Kohl auch diesmal zu früh bimmeln. Wenn im nächsten Frühjahr der Europäische Rat die Einführung des Euro beschließt, zu vernünftigen Bedingungen und in einer guten europäischen Gesellschaft, wird Helmut Kohl das politische Ziel seines Lebens, die europäische Einigung, sinnfällig erreicht haben, ein historisches Ziel, das ihm von Anfang an wichtig war und an dem er unbeirrt gegen all die Furchtsamen und Kleingläubigen festgehalten hat.
Dann dürften einige, der Kanzlerkandidat der SPD eingeschlossen, recht alt aussehen. Die Botschaft des Wahlkampfes kann man sich vorstellen: Kanzler der Deutschen, Kanzler der europäischen Einheit. Ein fünfter Wahlsieg wäre dann die eine Möglichkeit. Die andere: daß es ihm so geht wie Winston Churchill, dem britischen Kriegspremier. Als die Schlacht geschlagen war, schickten ihn die Wähler in die Opposition. Sicher ist nur: Die Probleme bleiben. So oder so. Warnfried Dettling
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