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TSCHETSCHENIENS KRIMINELLE KRIEGSWIRTSCHAFT VOR NEUER BLÜTEDer Europarat hat gekniffen

Russland darf wieder im Europarat mitstimmen. Dabei war die Suspendierung des Stimmrechts der russischen Delegation wegen der Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien weit mehr als nur ein symbolischer Akt. Zumindest in Moskau hat sie ihre Wirkung nicht verfehlt.

Bis in den von Krieg und Willkür gepeinigten Kaukasus reichte Straßburgs moralischer Appell indes auch vor neun Monaten nicht. Entführungen, Raub und Mord gehörten im verwüsteten Tschetschenien auch während der Suspendierung des russischen Stimmrechts zur Tagesordnung – verübt von jenen, die nach Lesart des Kremls in Grosny die verfassungsmäßige Ordnung wiedererrichten sollten. Gewandelt hat sich Moskaus Taktik, genauer: die Art des Umgangs mit Europa.

Man ist vorsichtiger geworden, bemüht das sittliche Vokabular des besorgten Kontinents und verkündet in Monatsschritten Etappensiege, die der angestrebten Normalisierung angeblich ein Fundament verleihen. Auch die Besuchsgesuche internationaler Beobachter werden mit mehr Wohlwollen beschieden. Um den zart besaiteten Europäern das Scheußlichste zu ersparen, nimmt Moskau sogar Unannehmlichkeiten auf sich. Räumt die berüchtigten Filtrationslager, verfrachtet die Insassen in Waggons und schiebt sie einige Tage auf ein Abstellgleis. In Straßburg hört sich das dann so an: Die Lage ist Besorgnis erregend, doch besser als noch zu Jahresbeginn. Der Eindruck trügt gewaltig. Das Gegenteil ist der Fall.

Wenn man sich in Russland auf etwas glänzend versteht, dann die Errichtung Potemkin’scher Dörfer. Mithin Fassaden, hinter denen Leere gähnt, die oberflächliche Beobachter aber zu anerkennenden Worten verleiten. In diesem Sinne ist auch Präsident Wladimir Putins Order zu verstehen, der rechtzeitig vor der Abstimmung im Europarat einen Truppenabzug ankündigte und den Oberbefehl vom Verteidigungsministerium an den Inlandsgeheimdienst FSB übertrug. Eine Maßnahme, die das Ringen um Frieden nicht unbedingt unterstreicht. Gleichwohl – das steht auf einem anderen Blatt.

Mehr Aufschluss geben unterdessen Äußerungen führender Militärs, die gestern vor Ort schon kein Blatt mehr vor den Mund nahmen: Von Truppenabzug könne keine Rede sein. Beobachter in Moskau hatten sofort ihre Zweifel. Seit der Einnahme Grosnys im Februar bläst der Kreml regelmäßig die gleiche Fanfare, eine Dienstleistung, die sich ausschließlich an wohlwollende Ohren im Westen richtet. Kurzum, ein doppelzüngiges Spiel, das unter Putin zur Methode geworden ist. Der Aufbau ziviler Strukturen, wie EU-Emissär Lord Judd ausgemacht haben will, wird – wenn er tatsächlich vorhanden sein sollte – nun endgültig zwischen den Parallelstrukturen des Geheimdienstes und der Armee zerrieben. Für tschetschenische Selbstverwaltung oder zumindest Mitverantwortung bleibt zwischen den Repressionsapparaten schlichtweg kein Spielraum. Verheerender noch: Auch der Geheimdienst muss sich nun vom verödeten Boden der Kaukasusrepublik ernähren. Die Zeche zahlt die Zivilbevölkerung. Wer sonst?

Das Amt ist vor allem Ressource. Der Glaube, der FSB könne für Ordnung sorgen, ist naiv. Selbst wenn die Spitzel weniger korrupt sein sollten als die Armee, leben müssen auch sie. Da der FSB gegenüber den eigenen Mitarbeitern keine ausreichenden Sanktionsmöglichkeiten besitzt – Josef Stalins Behörde ist gottlob längst passé – dürfte die kriminelle Kriegswirtschaft vor neuer Blüte stehen. Tschetschenische Warlords frohlocken. Die Kalaschnikow bleibt bis auf weiteres effektiver als jeder Businessplan. Weder Europa noch der einst strahlende Kreuzzügler Putin wollen das indes wahrhaben. Das verbindet, und folglich sitzen beide wieder in einem Boot. Beruhigend, nicht wahr ...

KLAUS-HELGE DONATH

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