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Frauenspuren im Kiez

Eine Stadtführung durch die wilden 80er-Jahre am Prenzlauer Berg

Bei „annamaria“ gibt es Eis und kleine Kuchen, Espresso und Capuccino. Wie von Kinderhand gemalt leuchten die Angebote der Gelateria in der Husemannstraße in Prenzlauer Berg in bunten Filzstiftfarben von Scheiben und Spiegeltafeln.

Bunt waren die Fassaden der Häuser in der Husemannstraße auch schon vor der Wende 1989, als in der Stadt die Mauer fiel. Es war so ziemlich die einzige Straße im Kiez, in der nicht der Putz von den Wänden bröckelte, die Balkone abbrachen, kurzum: die Spuren der Mangelwirtschaft keine schmutzig-graue Spur von Tristesse hinterließen. Heute hingegen gibt es kaum noch ein Indiz im Umkreis von zwei Kilometern, das auf Zu- und Übergriffe der Staatssicherheit der DDR verweist, die hier stets versuchte, Oppositionellen-Nester auffliegen zu lassen. Wer ahnt schon, dass „annamarias“ lichte Glasfront von Mielkes Handapparat Ende der 80er vernietet und vernagelt wurde? Dass sich hinter den Brettern einmal Ostberlins erster autonomer Kinderladen befand? Und Bürgerrechtlerinnen wie Ulrike Poppe, die ihre drei Kinder in der Kila untergebracht hatte, zu Hause von der Stasi verhaftet und anschließend der Kinderladen entsorgt und verrammelt wurde? Niemand natürlich. Nicht die Kleinfamilie, die sich mit großen Eistüten den Samstagnachmittag versüßt. Auch nicht die Zugereisten, die am Ende der Straße rund um den Kollwitzplatz die teuren, luxussanierten Dachgeschosse bezogen haben und bestenfalls wissen, dass Bill Clinton bei seiner letzten Berlin-Visite unten im Gugelhupf essen war.

Und auch nicht die acht Frauen, die sich an diesem unwirtlichen, kühlen Frühlingstag zusammengefunden haben, um mit Samirah Kenawi dort hinzuschauen, wo die Spuren der alternativen (Frauen)-Bewegungen im alten Ostberlin verwischt wurden. „Bar jeder Realität“ hätten die Frauen der Lila Offensive im November 1989, als die Stadt schon nicht mehr wirklich geteilt war, in der Gethsemanekirche ihre Forderung nach einem antiimperialistischen, antikapitalistischen und antistalinistischen Staat ausgerufen. Und ihre Forderung nach einem eigenen Staat, der selbständig neben der Bundesrepublik Deutschland existieren möge.

Samirah Kenawi war selbst Teil der Bewegung, aktiv in verschiedenen Frauengruppen. Mittendrin im LSD-Viertel, zwischen Lychener, Schliemann- und Dunckerstraße, hat sie gelebt und lebt sie noch heute. Sie weiß genau, wovon sie einmal im Monat auf ihrem Stadtspaziergang spricht, wenn sie vom Aufbruch der Frauen im Prenzlauer Berg redet. Als sich 1984 im Gemeindehaus der Gethsemanekirche die erste Lesbengruppe traf und zunächst für sexuelle Freiheit, dann für generelle Freiheit stritt.

Wenn man mit Samirah Kenawi um die Häuser zieht, wird ein Stück ungewöhnlicher Frauengeschichte Berlin-Ost lebendig.

PETRA WELZEL

Die Stadtführung „Frauengeschichte ganz nah. Die wilden 80er im Prenzlauer Berg“ findet jeweils am 7. jeden Monats statt; Info und Anmeldung unter: (0 30) 44 34 16 13

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