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Unter dem Pflaster – die Moderne

Probefahrt mit einem neuen Buch in die Geschichte der Berliner U-Bahnhöfe  ■ Von Michel Bienert

Was tut der Flaneur bei Hagel, Sturm und Frost? Er taucht ab in den Untergrund. Als Begleiter empfiehlt sich ein reichbebildertes Buch, das alle Berliner U-Bahnhöfe in alphabetischer Reihenfolge vorstellt. Schlägt man darin nach, gerät man rasch in ein Labyrinth, das nicht weniger faszinierend ist als das befahrbare Tunnelsystem: in die Geschichte der Bahnhofsnamen, das spezielle Steckenpferd des Verfassers Jürgen Meyer-Kronthaler.

Das Bahnhofsalphabet beginnt mit einer von vielen Stationen, die man auf der aktuellen Netzspinne vergebens sucht – Adenauerdamm. So hieß der Kaiserdamm nach Adenauers Tod neun Monate lang. Damals, im Jahr 1967, war das Zögern des ersten Bundeskanzlers während des Mauerbaus den Westberlinern noch gut in Erinnerung. Nach Protesten erhielten Straße und Bahnhof ihren alten Namen zurück.

Am besten, man testet den Gebrauchswert von Meyer-Kronthalers Nachschlagewerk auf einer Probefahrt. Besonders anschaulich erzählt die Station „Klosterstraße“ von der Berliner Verkehrsgeschichte. Bei der Restaurierung durch das „WBK Karl-Marx- Stadt“ in den achtziger Jahren wurden auf den ehemaligen Reklameflächen große Bilder von historischen Fahrzeugen angebracht. An einem Bahnsteigende steht ein historisches Stellwerk, am anderen ein alter U-Bahn-Wagen. Sehr schön entwickelt Meyer-Kronthaler die komplizierte Planungsgeschichte. Danach lockt er den Leser ins Zwischengeschoß, das 1913 mit prächtigen Majoliken ausstaffiert wurde: Nachbildungen der stilisierten Palmen von der Fassade des Thronsaales zu Babylon. Das Original kann im nahen Pergamonmuseum besichtigt werden.

Als „futuristischen Kunstsalon“ bezeichnete das Berliner Tageblatt im Eröffnungsjahr den prächtigen Übergang vom Bahnsteig zum Alten Stadthaus. Dort saßen damals die Stadtplaner. Seltsamerweise verliert Meyer-Kronthaler kaum ein Wort über die städtebaulichen Zukunftsbilder an den Wänden, die den Zusammenhang von U-Bahn-Planung und Stadtentwicklung sinnfällig machen.

Eine Station weiter ist man in einer ganz anderen Welt. Alexanderplatz – ein monumentales Verkehrstheater von strenger Sachlichkeit. Kaum zu glauben, daß die Bahnhöfe Klosterstraße und Alex vom selben Architekten stammen: dem Schweden Alfred Grenander, der den Stilwandel in der Architektur zwischen 1910 und 1930 souverän mit vollzog. Wie kaum ein anderer Architekt prägt Grenander mit seinen Bahnhöfen das Stadtbild bis auf den heutigen Tag: besonders sichtbar am Wittenbergplatz, am Hermannplatz und entlang der Hochbahnstrecke durch Prenzlauer Berg. Der Stadt Berlin waren die Verdienste Grenanders bislang nicht einmal einen Straßennamen wert.

Meyer-Kronthaler widmet Grenander ein paar Zeilen im Anhang seines Buches, er unternimmt aber nichts, um dem ahnungslosen Fahrgast die Augen für die subtilen Wirkungen der Architektur zu öffnen. Zum Beispiel für die raffinierten, von innen beleuchteten Glaskapitelle an den tragenden Pfeilern. Sie lassen die niedrigen Decken gleichsam auf Licht schweben. Große Öffnungen zwischen den Verkehrsebenen vermitteln den Passanten tief unter der Erde ein Gefühl von Weite.

So kühl diese Architektur wirkt, so verletzlich ist sie. Als die BVG vor drei Jahren ein neues Beschilderungssystem im Bahnhof Alexanderplatz installierte, nahm man noch Rücksicht darauf und integrierte die Schriften sorgfältig in die historischen Lichtbänder. Im vergangenen Oktober wurde die von Grenander sorgfältig inszenierte Raumwirkung durch zwei banausenhafte Einbauten ruiniert: Das Zwischengeschoß unter dem Bahnsteig der Linie 2 erhielt ein groteskes Lichtkapitell, und als gebe es nicht schon genügend Backshops in der Anlage, wurde ein weiterer Kiosk in die zentrale Passage hineingestellt. Die Metallkiste verriegelt den Blick zur nächsthöheren Ebene, den Grenander freigehalten hatte.

Mit der Ausstellung „Licht und Farbe im Berliner Untergrund“ protestierte eine Studentengruppe der Humboldt-Universität vor zwei Jahren gegen die fortschreitende Zerstörung der U-Bahnhöfe. Ihre Recherchen sind an Meyer-Kronthalers Buch leider spurlos vorbeigegangen. Besonders kraß wirkt sich das im Abschnitt zum Moritzplatz aus. Während alle Bahnhöfe zwischen Gesundbrunnen und Leinestraße von Alfred Grenander gestaltet wurden, lieferte am Moritzplatz AEG- Chefdesigner Peter Behrens den Entwurf. Dazu lesen wir bei Meyer-Kronthaler: „Dennoch ist die architektonische Einheitlichkeit gewahrt; auch der Bahnhof Moritzplatz fällt nicht aus dem einmal vorgegebenen Muster, was zu der Frage veranlaßt, ob der alles überragende Einfluß von Berlins U-Bahn-Architektur-Papst Grenander derart stilprägend war.“

Statt eine flotte Frage zu stellen, die er unbeantwortet läßt, hätte der Autor lieber ein bißchen schärfer hinsehen sollen. Es gibt keine Kapitelle an den Säulen, die Stützpfeiler sind mit Metallkanten gerahmt, und die ganze Architektur ist aus einem quadratischen Modul abgeleitet. Darin ist die Erinnerung an die verlorengegangene Figur des Moritzplatzes aufbewahrt: Lenné ließ den heutigen Kreisverkehr im 19. Jahrhundert als Quadrat anlegen. Aus der historischen Platzfigur entwickelte Behrens einen Entwurf von beispielloser Modernität, der heutigen Architekten als Leitbild dienen konnte.

Jürgen Meyer-Kronthaler: „Berlins U-Bahnhöfe. Die ersten hundert Jahre“. 360 Seiten, 320 Abbildungen. be.bra-Verlag, 54 DM

Stattreisen Berlin e.V. veranstaltet regelmäßig Führungen auf verschiedenen U- und S-Bahn-Linien. Termine unter 4553028

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