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Nachtseite eines Festes

■ Heute erscheint Uwe Timms Berliner Verwicklungsroman „Johannisnacht“

Nein, dies ist kein Reichstags-Verhüllungs-Memorial-Buch, auch wenn es sich der Verlag Kiepenheuer & Witsch im Jahre eins nach Christo nicht entgehen ließ, Uwe Timms „Johannisnacht“ entsprechend anzukündigen. Wohl spielt der Roman an einigen Tagen und Nächten Ende Juni letzten Jahres in Berlin, aber vom Reichstagsrummel ist erfreulich wenig die Rede. Kein Schwelgen im kollektiven Kunstrausch, kein sprachliches Waten in der glücklichen Masse der Besucher. Um der Nachwelt kenntlich zu machen, daß auch er wirklich vor Ort war, braucht der Münchner Autor („Rennschwein Rudi Rüssel“) nur wenige Zeilen.

Wie bei dem Berlin-Roman eines Nicht-Berliners kaum anders zu erwarten, wird zwischen Kurfürstendamm und Prenzlauer Berg natürlich trotzdem sattsam Lokalkolorit beschworen. Aber dennoch verbirgt sich hinter dem Titel „Johannisnacht“ zunächst mehr als ein vager Verweis auf das irgendwie dolle Treiben, das man automatisch damit assoziiert. Johannisnacht, der Geburtstag von Johannes, dem Täufer, ist kurz nach der Mittsommernacht, am 24. Juni. Es ist der höchste Feiertag der Freimaurer. Was nun dem Ich-Erzähler in Timms Buch rund um diesen Tag in Berlin widerfährt, läßt sich tatsächlich als Nachtseite eines Festes lesen, bei dem die Zugehörigkeit zu einer allumfassenden Ordnung zelebriert wird.

Ein gestandener Endfünfziger aus München erlebt in der Hauptstadt eine einzige Folge von Irritationen und wird fortgesetzt von Zeichen bedrängt, deren Bedeutung er nicht versteht. Sozialstudium und Selbsterfahrung fallen in diesem Buch zusammen, das als erlebt Beschriebene guckt listig als Projektion zurück.

Am Anfang steht die Kartoffel. Der Ich-Erzähler soll eine Reportage über die Kulturgeschichte der Kartoffel schreiben und reist nach Berlin, um sich von einem Kartoffelgeschmacksforscher Rat zu holen. Dieser ist mittlerweile zwar gestorben, doch sein geradezu fanatisch ausgefeiltes Geschmacksarchiv existiert noch. Der Erzähler findet und verliert es wieder, bekommt im Osten einen Haarschnitt verpaßt, dessen drei Treppen am Hinterkopf er sich im Westen grün einfärben läßt, entdeckt einen Fälscher russischer Konstruktivisten, erhält von einem Targi einen Ring als Geschenk und trinkt Wodka und Cocktails in schnellem Wechsel. Nebenbei verliebt er sich in ein Mädchen, das mit Telefonsex sein Geld verdient und vielleicht doch ein Junge ist, läßt per Bumerang-Call 1.000 Telefoneinheiten zurückbuchen, legt sich mit bulgarischen Waffenhändlern an und kommt gleich mit jedermann ins Gespräch.

All das sind hübsch rätselhafte Erlebnisse, die man umstandslos akzeptiert, weil der Protagonist dabei zunehmend an sich zu zweifeln beginnt. Mit seiner schlicht konstatierenden Erzählweise marschiert Timm auch unbeirrt an all den Klischeefallen vorbei, die im Großstadtdschungel reichlich ausgelegt sind, und kümmert sich statt dessen erfolgreich um die immer weitere Verwirrung seiner Erzählstränge. So erfolgreich allerdings, daß er am Ende selbst den Überblick verliert und unvermittelt alles fallenläßt: Kurz vor dem Showdown, als der Targi, der Waffenhändler und die androgyne Liebe im Charlottenburger Pensionszimmer des Ich-Erzählers gleichzeitig einzutreffen drohen, packt dieser einfach seine Sachen und springt in den nächsten Zug heimwärts.

Das ist eine ganz und gar schmähliche Flucht des Autors aus seinem Roman. Denn die Palette ganz subjektiver Berlin-Geschichten wird sofort schal, wenn sie, so angerissen, plötzlich eben doch der Allgemeinheit überantwortet werden soll. Ein einziges Rätsel wird kurz vor der Abfahrt im Bahnhof Zoo noch gelöst – das einzige, das der Erzähler bereits aus München mitgebracht hat, und das einzige, das einen die ganzen 280 Seiten lang in Berlin wirklich nicht interessiert hat. Petra Kohse

Uwe Timm: „Johannisnacht“. Kiepenheuer & Witsch, 288 Seiten, 36 DM

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