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Begründer von Lebensart

■ Vor hundert Jahren starb J. A. W. Carstenn: Der Entwickler von Vorstädten in Hamburg und Berlin war einer der Vorläufer der Gartenstadtbewegung

Zwischen dem Autobahnzubringer A24 und dem S-Bahnhof Wandsbek, das Wandsbeker Gehölz umarmend, liegt ein kleiner Stadtteil, den kaum ein Hamburger kennt, der aber vor 140 Jahren eine enorme Bedeutung für die Stadtentwicklung der Hansestadt und Berlins hatte: Marienthal. 1857 kaufte Johann Anton Wilhelm Carstenn, ein Junkerssohn aus der Nähe von Oldenburg, das Gut Wandsbek, um hier erstmals seine Vision vom vorstädtischen Wohnen im Grünen zu verwirklichen. Carstenn war einer jener gründerzeitlichen Finanzmenschen, deren liberales Ethos darin bestand, die Lebensverbesserung der Menschen als unternehmerische Pflicht mitzubegreifen. In Marienthal verwirklichte er erstmals sein Ideal eines mittelständischen Villenvororts, wie er modifiziert später in der Reform- und Gartenstadtbewegung aufging.

Dazu überzeugte er die Lübeck-Büchener Eisenbahngesellschaft, seine Ortsgründung ans Eisenbahnnnetz anzuschließen. Der Bahnhof Wandsbek wurde 1862 der erste Lokalbahnhof Hamburgs, verbunden mit dem Lübecker Bahnhof an der Spaldingstraße, Hamburgs damaligem Hauptbahnhof. So sicherte Carstenn die Attraktivität von Marienthal als städtischem Viertel, das dennoch im Grünen lag und günstige Grundstückspreise behielt.

Mit dem Gewinn, den Carstenn aus dieser Spekulation erwirtschaftete, ging er nach Berlin, wo er nach der Reichsgründung 1871 enorme Entwicklungschancen für seine Idee des bescheidenen Lebens in Luft und Licht witterte, und begründete dort sein eigentliches Lebenswerk: die Vorortssiedlungen Lichterfelde und Friedenau sowie diverse kleinere Stadtentwicklungsprojekte.

Wieder begann er mit dem Kauf ländlicher Rittergüter, sorgte für einen Bahnanschluß und parzellierte das Gebiet so, daß die von ihm gewünschte Klientel des Mittelstandes hier heimisch werden konnte. Als Lockmittel überredete er den Kaiser, hier auf seine Kosten eine Kadettenanstalt einzurichten, deren Realsisierung ihn aber später in den Ruin trieb. Mit einem Ladenzentrum am Bahnhof und kleinen, gelbgeklinkerten Villen zwischen Kastanienalleen schufen er und sein Hamburger Architekt Johannes Otzen in Lichterfelde eine Atmosphäre, die der berühmte Stadthistoriker Julius Posener, der hier aufwuchs, später als ein „Idyll“ beschrieb, in dem man nichts vermißte.

Seinen Ruf als Pionier verteidigte Carstenn durch Weitsicht auch in der neuen Reichshauptstadt. So installierte er die erste elektrische Eisenbahn der Welt in Lichterfelde und entwickelte einen Stadtentwicklungsplan für das Gebiet zwischen Berlin und Potsdam, weil er erkannte, daß die beiden Städte längerfristig zusammenwachsen werden. Für seine Verdienste erhielt Carstenn vom Kaiser schließlich den Adelstitel von Carstenn-Lichterfelde.

In der Verbindung von Investor, Entwickler, Reformator und Träumer steht Carstenn exemplarisch für eine Generation von kaisertreuen Gründervätern, die im letzten Jahrhundert jene Stadtgebiete geschaffen haben, die heute als jene mit dem höchsten Lebensstandard gelten. Deswegen ist es auch besonders schade, daß Wandsbek sich des jetzigen Jubiläums – heute vor hundert Jahren verstarb Carstenn-Lichterfelde in Berlin – nicht für eine fundierte Ausstellung bediente. Dafür muß man jetzt leider nach Berlin reisen, wo in Steglitz Carstenns Lebenswerk dargestellt wird. Als Trostpflaster läßt sich der kleine Katalog bestellen.

Till Briegleb

Ausstellung in Berlin: Galerie in der Schwartzschen Villa, Grunewaldstr. 55, bis 19. Januar 1997

Katalog über: Bezirksamt Steglitz, Kulturamt, Schloßstr. 80, 12154 Berlin, 030/ 7904-2302

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