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Keine Selbstzweifel einreden lassen

Die Kreuzberger Stadterneuerung war kein Irrweg, sondern der richtige Weg, der nur nicht zu Ende gegangen wurde. Die Wirklichkeit ist hinter den Möglichkeiten zurückgeblieben, aber dies ist kein Grund zum Kurswechsel  ■ Von Werner Orlowsky

Mit seiner folgenden Bilanz der Kreuzberger Stadtsanierung antwortet Werner Orlowsky, Anfang der achtziger Jahre erster AL-Baustadtrat in Kreuzberg, dem Stadthistoriker Dieter Hoffmann-Axthelm. Jener kam in der taz vom vergangenen Freitag zum Schluß, daß es gar kein Modell Kreuzberg gibt, jedenfalls keines, das man bei anderen Sanierungen zur Nachahmung empfehlen könne.

Gegner hatte die Kreuzberger Stadterneuerung mehr als genug, seit sie nach langen, heftigen Protesten gegen Kahlschlag, Blockentkernung, Luxusmodernisierung und den angesichts der Wohnungsnot provozierenden Leerstand von über 10.000 Wohnungen in Berlin schließlich vor allem durch die massenhaften Haus(instand)besetzungen vom Kopf auf die Füße gestellt worden war.

Diese Gegner waren in politischen Parteien, in der Bauwirtschaft und Teilen der Gewerkschaft Bau-Steine-Erden zu finden. Ihnen paßte die neue Richtung nicht. Ihre Motive waren vor allem: die Furcht vor den neu entstandenen partizipativen Strukturen, die Erkenntnis, daß die vermessene Praxis, die gewachsenen sozialen Zusammenhänge im Stadtteil zu zerschlagen und durch Bevölkerungsaustausch die vorhandene, vorgeblich „ungesunde“ Bevölkerungsstruktur durch eine „gesunde“ zu ersetzen, nicht länger durchsetzbar wäre, sowie das ökonomische Interesse, sich die profitable Geldquelle Neubau und Luxusmodernisierung zu erhalten. Vereinzelte positive Stimmen aus diesen Kreisen waren nur Ausnahmen, die die Regel bestätigten. Als sie später mehr wurden, waren es meist nur Lippenbekenntnisse, die der Tarnung dienen sollten.

Heute, 16 Jahre später, wird wieder Fraktur geredet: Kein Geld mehr für „Extravaganzen“, Schluß mit Sonderwegen, zurück zur „Normalität“ und überhaupt: Privatkapital (durch Steuerabschreibung gebildet) muß ran, Deregulierung ist angesagt, weitgehender Rückzug „des Staates“ wird gefordert, der nicht länger Leistungs, sondern nur noch Gewährleistungsstaat sein soll.

Noch können Bezirk und Stadt das aushalten – aber wie lange noch? Denn schon sind Versuche im Gang, die Geschichte der Kreuzberger Stadterneuerung umzuschreiben, ihre Erfolge in Mißerfolge umzudeuten und ihre demokratischen Errungenschaften zu liquidieren.

Merkwürdigerweise gesellen sich zu den notorischen Kritikern dieser „nachhaltigen“ Stadterneuerung nun auch solche, die diese früher gepriesen, für alternativlos und modelltauglich erklärt hatten. Vielfach waren sie sogar deren Vorkämpfer und jahrelange Verfechter. Allzu hurtig auf die Seite ihrer Gegner von einst gewechselt, sind sie, metropolenberauscht, zu Wendehälsen geworden und gießen Spott und Häme auf ihr einstiges Idol. Einer dieser Renegaten ist der Stadthistoriker Dieter Hoffmann-Axthelm. In einem längeren Artikel „Der veröffentlichte Bezirk“ in der letzten Ausgabe der Kreuzberger Sanierungszeitung Drucksache mischt er ein paar zutreffende, aber nicht zu Ende gedachte Kritikpunkte in seltsam verkürzter Wahrnehmung der Realität mit halben Wahrheiten und ganzen Verdrehungen: Alles war viel zu teuer, zu viele (Wohnungsbaugesellschaften, IBA, Architekten, Soziologen, Historiker und Mieterberater) hätten zu viel verdient, nun sei man unfähig, sich auf die seit 1989 neue Situation einzustellen und auf sie zu reagieren, sich mit der Wiedervereinigung Berlins und damit, daß der Tropf nun abgestellt ist, abzufinden. Man pflege Opfermentalität, igele sich ein, habe sich abgewöhnt, selbst verantwortlich zu sein, verteidige den Bestand, huldige einer Scheinkultur und sei „der vielfach prämierten buntfarbenen Broschüren-Realität“ erlegen.

Mit solchen Argumenten werden die Kritiker, ob sie es wollen oder nicht, zu Handlangern jener, denen die Demokratisierung und Humanisierung der Stadterneuerung schon immer verhaßt war. Verhaßt, weil diese Transparenz, den offenen Diskurs aller Betroffenen und Beteiligten und eine wirksame Partizipation der Stadtbürger voraussetzt (und wiederum auch erzeugt) – ein neues Verfahren, mit dem außerhalb von offizieller Politik und Verwaltung Alternativen entwickelt, ins Spiel gebracht und – manchmal sogar – durchgesetzt werden können.

Partizipation, Mitsprache und Mitentscheidung der Bewohner, die nicht länger duldende Objekte fremdbestimmter Entscheidungen sein mußten, sondern zu selbstbestimmt an den Entscheidungen mitwirkenden Subjekten wurden – das war der politische Kern und das gesellschaftliche Fundament der Kreuzberger Stadterneuerung seit 1981. Daraus entwickelte sich ein stabiles Geflecht von Bürgerinitiativen, Betroffenenvertretungen, Vor-Ort-Büros der unabhängigen Mieterberatung, wurde die offene und die objektbezogene Beratung (Sozialplanverfahren) durchgesetzt (damals vom Verein SO 36). Diese wurde dann für andere Bezirke, seit 1991 auch im Ostteil der Stadt, beispielhaft. Daß die IBA an der neuen Kultur der Bürgerbeteiligung ihren Anteil hatte, während die mit der Durchführung der Stadterneuerung als Sanierungsträger beauftragten städtischen Wohnungsbaugesellschaften auf ihre alten – unter gänzlich anderen Zielvorstellungen 1972 geschlossenen – Verträge pochten und mühsam zum Jagen erst getragen werden mußten, gehört zu der facettenreichen Geschichte. Mit der Forderung nach maximalem Erhalt des Bestehenden, nach der von den Betroffenen erfundenen und, seit Frühjahr 1981, vom neuen Weizsäcker-Senat übernommenen Formel: „Instandsetzung – als Wiedergutmachung jahrelang unterlassener Instandhaltung – vor Modernisierung, Modernisierung – mit den Mietern abzustimmen – vor Abriß und Neubau“ wurde zugleich die Verknüpfung der baulichen Ziele mit den sozialen vollzogen und zum Programm erhoben: Sicherung der gewachsenen sozialen Zusammenhänge, Ausschluß der Bewohnervertreibung (wer bleiben will, muß bleiben können). Zwangsläufig ergab sich daraus die Frage nach der künftigen Miethöhe. Die Miete mußte auch nach der Modernisierung bezahlbar sein – und das hieß, angesichts des niedrigen Einkommensniveaus in Kreuzberg (nur 60 Prozent des Westberliner Durchschnitts): niedrig. Die Klagen der Kritiker, es sei zuviel Geld in die Kreuzberger Stadterneuerung geflossen, gehen fehl. Denn es war viel Geld notwendig, um dem Bezirk, der stellvertretend für Berlin (West) so viele Probleme auffing (von denen der überproportional hohe Anteil an Arbeitslosen, Sozialhilfeempfängern und ausländischen Kreuzbergern das augenfälligste war), den zu Recht reklamierten Wertausgleich zu verschaffen: In der sozialen Infrastruktur, im Wohnumfeld und im Wohnstandard vorliegende Berechnungen weisen übrigens nach, daß die behutsame Stadterneuerung weit kostengünstiger ist als alle anderen Verfahren. So ist das nach Kreuzberg gepumpte Geld keineswegs „das eigentliche Übel“ gewesen, „das alles zerstörte“ (Hoffmann-Axthelm). Es war ein Segen, ohne den – trotz allen Engagements aktiver Bewohner – Kreuzberg ein Slum und damit ein Dauerpflegefall wäre (als den es sich zu keiner Zeit verstanden oder gar „etabliert“ hat): hoch subventioniert, um solch explosiven sozialen und politischen Unruheherd halbwegs unter Kontrolle zu halten.

Aber es ist zu beklagen, daß der größte Teil der Sanierungsmaßnahmen in der vorhandenen, von den Eigentümern sträflich – jedoch straflos – heruntergewirtschafteten Altbausubstanz und die Anpassung an neuzeitliche Wohnstandards nur durch massiven Einsatz öffentlicher Fördermittel zu bewerkstelligen war. Dies waren Steuergelder, mit denen die Eigentümer gleichsam „gekauft“ wurden, um sie im Gegenzug zur Einhaltung einer vergleichsweise niedrigen sozialverträglichen Miete zu verpflichten. Nur so waren sie zu packen; ob private Eigentümer oder städtische Gesellschaften, das machte keinen Unterschied. Waren jene zugleich Steuerabschreiber, so galten diese als besonders gefräßige „Subventionsverzehrer“, die, vom Fiskus ausgehalten, alles zu tun bereit waren, wenn sie, wie einige später kolportierten, eine 130prozentige Förderung erhielten und sich, als Sanierungsträger, anfallende Bewirtschaftungsdefizite von Berlin auch noch ersetzen lassen konnten. So einfach kann es sein, der Gemeinnützigkeit zu genügen. Angesichts einer Verfassung, die das Eigentum garantiert, dessen Sozialbindung jedoch nur postuliert, so daß in der Verfassungswirklichkeit das Gleichgewicht zwischen beiden noch längst nicht hergestellt ist, gab es zum praktizierten Subventionsverfahren keine durchsetzbare Alternative. Das dadurch erforderliche Regelwerk des besonderen Städtebaurechts konnte dies nicht ausgleichen.

Hier und nirgendwo sonst liegt der entscheidende Punkt. Zwar war eine Alternative von einer gemischten Arbeitsgruppe des Vereins SO 36 entwickelt worden und fand, durch ein wissenschaftliches Gutachten sachlich und fachlich abgesichert, Eingang in die Koalitionsvereinbarungen zwischen AL und SPD vom 13. März 1989: Einstieg in den kommunalen Wohnungsbau – im Bestand wie auch beim Neubau – als ein auf bezirklicher Ebene organisiertes „kommunales Sondervermögen“. Hiermit hätte das gesamte bisherige – hohe Zins- und Schuldenlasten produzierende – Förderungssystem, an dem Berlin bis heute leidet und die Banken mächtig profitieren, gesprengt werden können. Bekanntlich scheiterte Rot-Grün. Schwarz- Rot begrub eilends alle derartigen Pläne, für die es fortan keine politische Mehrheit mehr gab. Die bisherige Subventionsmisere dauert fort. Mit der Verteufelung des Kreuzberger Modells, dem – vereinzelt noch, aber immerhin – von seinen Kritikern jeglicher Erfolg abgesprochen wird, sollen vor allem die demokratischen Strukturen der Bürgerbeteiligung, besonders ihre in den zwei Stadtteilausschüssen, 36 und 61, institutionalisierte Plattform getroffen werden.

Bestätigt und anerkannt durch Beschlüsse des Abgeordnetenhauses und der BVV, sind sie das Fundament der partizipatorischen Praxis und damit der kommunalen Demokratie im Bezirk. Nicht die desolate Situation der Stadtfinanzen, hausgemachte Fehler, Fehlentwicklungen oder der riesige Finanzbedarf der (Innen-)Stadtbezirke im Ostteil, sondern fehlender politischer Wille und hartnäckige Gegnerschaft verdunkeln die Zukunftsaussichten Kreuzbergs. Das – und nichts anderes – bedroht auch die Kreuzberger Erfolge, die die Kritiker geflissentlich unterschlagen: die inoffizielle Infrastruktur selbstverwalteter Projekte im sozialen, jugendpolitischen und kulturellen Bereich und der allgemeinen, gemeinwesenbezogenen Beratungs- und Betreuungsarbeit: die hochentwickelte Projektekultur, die maßgeblich zur Stabilisierung des Stadtteils beiträgt und Kreuzberg mitgeprägt hat.

Die Kreuzberger Stadterneuerung war kein Irrweg, den zu beschreiten anderen dringend abzuraten wäre, sondern der richtige Weg, der nur noch nicht zu Ende gegangen wurde. Sie war auch baulich kein Mißerfolg, wie die vielen neuen Schulen, Kitas, Senioreneinrichtungen, Parks, Sportstätten ebenso beweisen wie die hohe Zahl der „Mit den Bewohnern, für die Bewohner“ behutsam, sozialverträglich und ökologisch erneuerten Wohnungen (zwei Drittel des erneuerungsbedürftigen Bestandes).

Bilanziert man richtig, so ist natürlich festzustellen, daß auch in Kreuzberg die Wirklichkeit hinter den Möglichkeiten zurückgeblieben ist. Aber vieles konnte erreicht werden. Noch ist Kreuzberg nur Modell, das (noch?) nicht in Serie gegangen ist. Nur Teile davon wurden – unter Anpassung an die eigenen Bedingungen – anderswo übernommen: beispielsweise in Prenzlauer Berg. Damit ist die Modelltauglichkeit bewiesen.

Unter Beweis gestellt wurde die Brauchbarkeit des international bekannten Modells: „Block 103“ für hochverdichtete Altbaublöcke in innerstädtischen Ballungsgebieten. Hier wurden durch die Verknüpfung der behutsamen, sozialverträglichen, durch stadtökologische Maßnahmen ergänzte Erneuerung mit der von den Bewohnern gebildeten und selbstverwalteten Genossenschaft „Luisenstadt“ neue Maßstäbe gesetzt: Die Häuser denen, die darin wohnen.

Um seine Identität und damit sich selbst zu bewahren, darf sich Kreuzberg keine Selbstzweifel einreden lassen. Für einen grundsätzlichen Kurswechsel besteht kein Anlaß. Vielmehr gilt es, konsequent die demokratischen Errungenschaften zu verteidigen, und, vom Erreichten ausgehend, sich auch weiterhin für alles Neue offenzuhalten: erhalten und gestalten.

Und nicht vergessen: Utopien greifen immer weiter als die Realität, und was über das Erreichte hinaus gedacht wurde, bleibt als kühne Überhebung, als Idee und Versuchung gegenwärtig.

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