: Ein Leben im Augenblick
■ Im Sleep-in finden Straßenkids ein Zuhause für eine Nacht. Tagsüber treiben sie sich am Bahnhof Zoo herum. Die 14- bis 18jährigen schlagen sich mit Schnorren durch
Für Aslan geht es um die Wurst: Sichtlich aufgekratzt springt der Pitbull-Mischling durch das Erdgeschoßfenster und steuert zielsicher den Abendbrottisch – inklusive üppiger Wurstplatte – an. Dort sitzt die Stammbelegschaft und läßt sich die Nutellabrote schmecken. Judy und Sam, Martin und Arno – Punks, Junkies, Schnorrer, Straßenkids. Und passionierte Hundehalter: Aslans Heißhunger wird umgehend mit einigen Scheiben Salami gestillt.
Daß die Jugendlichen ihre Hunde mitbringen dürfen, ist nur eine der Besonderheiten des Sleep-ins für junge Obdachlose in der Charlottenburger Müller- Breslau-Straße. Als „niederschwelliges Angebot“ firmiert die von der Kontakt- und Beratungsstelle (KuB) betriebene Einrichtung im Jugendhilfejargon. Das heißt, außer Gewaltlosigkeit, dem Verzicht auf Drogen während des Aufenthalts und der Nachtruhe gibt es keine Auflagen für das Übernachten. Die 14- bis 18jährigen können hier anonym bleiben, und auch Drogenabhängige werden aufgenommen.
Ein Zuhause ist die Schlafstätte aber nicht. Um 12 Uhr mittags müssen alle wieder raus und das heißt für die meisten: zum Zoo. „Der Zoo ist unser Revier“, sagt die 17jährige Judy. Und dort herrsche das Recht derjenigen, die am längsten da sind. „Neue“, die eine „große Fresse“ hätten, erhielten schon mal „Bahnhofsverbot“.
Die Kids versuchen sich abzugrenzen, Gruppen zu bilden, Identität zu erhaschen: „Wir haben am Zoo Punks, Technos, Schwule, Alkis, Junk's und Normalos“, erzählt Daniel. Wirklich Verrückte wären dabei, und oft gebe es Schlägereien. Martin lacht kurz auf: „Am geilsten ist es, wenn zwei auf Schore Streit kriegen, dann klappt gar nix!“ Auf „Schore“, das heißt auf Heroin, ist der 16jährige selbst, und im Gegensatz zu seinen Freunden, die den Stoff von der Alufolie rauchen, „ballert“ er auch – er drückt.
Drogen, Geld für Drogen – das sind hier die Themen: Ein Mädchen stürmt herein, großes Hallo: „Gab Bullenstreß am Breitscheidplatz. Ich hab Heroin für 'nen Zwanni wegschmeißen müssen.“ Dabei hätte sie acht Stunden für das Geld geschnorrt. Mit Schnorren schlagen sie sich alle durch, viele gehen auf den Strich.
Und früher? Ein eigenes Café habe er in Erfurt gehabt, erzählt Torsten. Doch die Faschos hätten seinen Laden mit „Mollis“ attackiert, da sei er notgedrungen abgehauen. Sam kommt gar aus Texas, ist nach dem Tod ihrer Eltern „irgendwie“ hier gestrandet, will sich „irgendwann“ mal auf die Suche nach ihrer Schwester machen.
„Irgendwann“ – ein vielstrapaziertes Wort: „Diese Jugendlichen leben im Augenblick“, ist die Erfahrung von Sozialarbeiter Robert Hall. So sei auch die scheinbar solidarische Gruppe eher eine Zufallskonstellation. Das „Morgen“ liegt im Nebel. „Bloß niemals Arbeiten!“ ist Martins einziger Gedanke an die Zukunft. Torsten würde gerne in einem Hausboot wohnen. „Zurück zur Familie“ ist aber für alle tabu. Hall weiß: „Vielen mittellosen Eltern sind ihre Kinder schlicht egal.“ Blankes Desinteresse registriere er immer häufiger.
„Egal“ ist ein Begriff, mit dem auch Martin gut umgehen kann: „Mir ist es egal, daß euch egal ist, daß alles egal ist“, dichtet der Junge mit dem Irokesenschnitt. Klemens Vogel
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen