: Auf dem Weg nach Osten
Die Nordseeinsel Wangerooge wandert. Um ein weiteres Abdriften zu verhindern, wird zu Saisonbeginn Sand geschippt ■ Von Christine Berger
Mit geschlossenen Augen läßt es sich am besten schmecken. Salz liegt in der Luft – und Sand. Auf Wangerooge, der östlichsten der Ostfriesischen Inseln, ist das Fundament dauernd in Bewegung. Sand rieselt aus den Haaren, knirscht beim Essen zwischen den Zähnen und verirrt sich auch schon mal ins Bett. Rund 60.000 Feriengäste wissen das zu schätzen und kommen regelmäßig wieder. Zur Vorsaison sind zwar nicht wie im Hochsommer alle Betten auf der Insel ausgebucht, dafür dürfen die Urlauber die größte Buddelei nördlich des Potsdamer Platzes mitverfolgen.
Wettergegerbte Friesen wühlen sich mit Schaufelbaggern durch das je nach Wetterlage goldene oder olivfarbene Element. Die Richtung ist jedes Jahr dieselbe: Was der Wind im Winter von West nach Ost geweht hat, wird retour an den angestammten Platz gekarrt. Bei besonders windigen Wintern hilft allerdings auch das Schaufeln nicht mehr. Dann müssen Rohre verlegt werden, und der Sand wird vom Ostende Richtung Westen gespült. Da diese Aktion den Gemeindehaushalt mit Millionenbeträgen belastet, sehen die Insulaner jedem Frühjahr mit Bangen entgegen. Dieses Jahr war das Spülen zum Glück nicht nötig. Statt der manchmal üblichen 100.000 Kubikmeter Sand hat der Westwind gerade mal die Hälfte fortgeweht.
Auch Pensions- und Hotelpersonal sieht man fleißig schippen. Sand in den Vorgärten ist kein willkommener Gast und wird an anderer Stelle dringender gebraucht, nämlich am Strand. Also werden Rosenstöcke, Tulpen und Narzissen regelmäßig ausgebuddelt, damit Insulaner und Feriengäste auch mal was anderes sehen außer Strandhafer und -quecke.
Daß der Wind auf Wangerooge ein bestimmtes Ziel verfolgt, ist den Bewohnern schon lange ein Dorn im Auge. Mit allen Kräften versucht der Himmelsventilator die Insel von West nach Ost zu verrücken – und das schon seit Jahrtausenden. Immerhin ist die Insel, die eigentlich nur eine Sandbank ist, allein in den letzten dreihundert Jahren um etwa drei Kilometer gewandert. Dort, wo im 16. Jahrhundert das Dorf gelegen hat, befinden sich heute die Ostdünen der Nachbarinsel Spiekeroog.
Damit das Westufer der Insel nicht weiter abbröckelt, wurde in den sechziger Jahren zum Betonmischer gegriffen. Buhnen und Beton halten die Insel fest und stellen die Wanderbewegung vor unüberwindbare Hürden. Der alte Westturm, der im Ersten Weltkrieg gesprengt wurde, hat seine letzte Ruhe in Form eines Wellenbrechers gefunden. Wäre der altehrwürdige Turm aus dem Jahre 1597 nicht von deutschen Militärs umgelegt worden, hätte das ein paar Jahre später der Wind erledigt. Dort, wo seine Fundamente einst den Mittelpunkt der Insel ausmachten, spült die Nordsee heute munter über den Grund. Der neue Westturm steht dem Wasser zwar auch schon wesentlich näher als bei seinem Bau vor siebzig Jahren. Dank der Befestigungen dürfte das allerdings noch eine Weile dauern, bis auch dieses 57 Meter hohe Wahrzeichen, in dem sich eine Jugendherberge befindet, ein Opfer von Wind und Wetter wird.
Abstriche müssen dennoch gemacht werden: Die Schullandheime am Westend haben nur noch einen Strand, wenn Ebbe ist. Den letzten Rest Sand trug der Wind in den achtziger Jahren fort.
Sanddünen lagern zwischen den Heimen in Hülle und Fülle. Betreten ist allerdings streng verboten, wie überall auf der Insel. Das Zertrampeln der dünnen Mutterbodenschicht würde den darunterliegenden Sand freilegen und dem Windspiel neue Nahrung geben. Ganz abgesehen von den seltenen Pflanzen, die sich auf dem Dünengrund tummeln und die mit ihrem Wurzelgeflecht das Sandgebilde zusammenhalten.
Verbots- und Warnschilder pflastern die gesamte Insel. Vielleicht liegt die Ursache für soviel Maßregelung aber auch in der regelmäßigen Übervölkerung der Insel in den Sommerferien. Dann fällt das halbe Ruhrgebiet mit Lufthunger ein, und der Strand entwickelt sich zu einer riesigen Buddelkiste. Daß nicht nur der Wind an den Grundfesten der Insel nagt, ist letztendlich kein Geheimnis.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen