: Zeitlich fern, ideologisch nah
■ Oliver Tolmeins Gespräche mit Irmgard Möller über die RAF
Die RAF hat Konjunktur. Mit Blick darauf, daß sich der „Deutsche Herbst“in wenigen Monaten zum zwanzigsten Mal jährt, überschwemmen Publikationen den Büchermarkt, in denen ehemalige Angehörige der „Rote Armee Fraktion“und der „Bewegung 2. Juni“die Geschichte der links-militanten Organisationen und auch ihre eigene nachzeichnen.
Allein die Hamburger Verlage sind mit drei Werken präsent: Der Spiegel-Verlag mit der eitlen, polternd das Sensationsinteresse und die Schlüsselloch-Mentalität eines breiten Publikums befriedigenden Autobiographie von Till Meyer (Staatsfeind), der Nautilus-Verlag mit der in Teilen sehr privat gehaltenen Biographie von Inge Viett (Nie war ich furchtloser) und der Konkret-Literatur-Verlag mit „RAF – Das war für uns Befreiung“, einem mehr als 200 Seiten füllenden Interview, das der Hamburger Journalist Oliver Tolmein mit Irmgard Möller geführt hat.
Die Gründe, warum die RAF den bewaffneten Kampf gegen das bundesrepublikanische System aufgenommen hat, die Diskussion der Aktionsformen der Gruppe, die Analyse der staatlichen Reaktion, die Haft- und Prozeßbedingungen und die ungeklärten Todesumstände zahlreicher RAF-Gefangener sind die zentralen Themen des Gesprächs, das in Fortsetzungen über fast ein Jahr geführt wurde.
Rund 30 Jahre (RAF-)Geschichte, von denen Irmgard Möller knapp 23 Jahre in Haft verbracht hat, werden reflektiert. Dabei erliegen Möller und Tolmein weder der Versuchung, ins Anekdotisch-private abzugleiten, noch erheben sie den Anspruch, mehr als ein Vierteljahrhundert Geschichte bewaffneter linksradikaler Politik umfassend nachzuzeichnen.
Vielmehr werden Einblicke in die Gedankenstruktur einer Frau möglich, die bis heute der militanten Politik der RAF nicht abgeschworen hat, sondern ihre Zeit in der Stadtguerilla und als Teil des Gefangenenkollektivs nach wie vor als zentralen Bestandteil ihrer eigenen Geschichte begreift. Mit zeitlicher Distanz, doch ungebrochener ideologischer Nähe zur Phase des bewaffneten Kampfes beklagt Möller vor allem die fehlende politische Vermittlung vieler RAF-Aktionen. Gleichzeitig rechtfertigt sie die Ermordung hochrangiger bundesdeutscher Funktionsträger, wie die von Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer: „Wenn man nicht bereit ist, jemanden wie Schleyer zu töten, darf man ihn gar nicht erst entführen.“Den vielen „Wahrheiten“über die Geschichte der RAF fügt die einzige Überlebende der „Stammheimer Todesnacht“ihre eigene hinzu: Die Gefangenen hätten im Hochsicherheitstrakt weder über Waffen noch über ein geheimes Kommunikationssystem verfügt; Meinhof, Baader, Ensslin, Raspe und Schubert hätten sich nicht selber getötet, sondern seien ermordet worden.
Durch kurze Zusammenfassungen der politischen Ereignisse macht Tolmein die Erinnerungen und Bewertungen Irmgard Möllers auch für eine LeserInnengeneration zugänglich, die während der frühen Jahre der RAF noch nicht geboren waren oder in den Kinderschuhen steckten. Marco Carini
Oliver Tolmein: „ ,RAF – Das war für uns Befreiung'. Ein Gespräch mit Irmgard Möller über bewaffneten Kampf, Knast und die Linke“, Konkret Literatur Verlag 1997, 270 Seiten, 32 Mark
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