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Der Stift als Feile am Gitter

Sechs Knackis und ein Schließer schreiben über den Knast: In „Zeitgitter/Gitterzeit“ stehen bemerkenswert schöne Texte über das Innenleben der JVA Tegel  ■ Von Barbara Bollwahn

„Der Mann liebte sie über alles. Seine Liebe begann gewiß oben, und sie endete natürlich, wie alles im Leben, ganz energisch in der Tiefe. ,Oben wie unten‘, meinte der Mann, ,gleicht Geburt und Tod. ... Alles, was dazwischenliegt, ist Nichts. Leere. Deshalb will er sich auch in den Frauen versenken – um erneut geboren zu werden.‘ Nachdem er diese Worte gesprochen hatte, nahm der Mann das halbvolle Glas vom Nachttisch, ohne dabei die Frau aus den Augen zu verlieren. ... Der Mann lächelte. Er sagte: ,Es stimmt nicht, daß man die Einsamkeit teilen kann. Man kann auch den Schmerz nicht teilen.‘ Fast widerwillig beugte er sich noch einmal aus dem Bett, und er bediente den am Boden stehenden Plattenspieler. Gleich daneben lag eine Hülle, auf der in großen Buchstaben ,Eroika‘ stand. ... Als die ersten Takte erklangen, lag der Mann schon ganz still. Er hielt einen Arm um den Oberkörper der Frau geschlungen, lag auch Wange an Wange, und er spürte so dirket, so nah ihr zartes kaltes Fleisch. Seine Augen ruhten jetzt fast friedlich auf ihrem Mund – jenem Mund, der leicht geöffnet war, als würde sie unbedingt noch etwas sagen wollen, als würde sie noch überlegen und das eine Wort nicht finden. ... Der Mann kannte das Wort. Es lag auf ihren Lippen und flüsterte unausgesprochen ewiglich: MÖRDER ...“

Ein Mann beschreibt, wie seine Liebste neben ihm liegt. Er begehrt sie, ihren Körper, ihren Mund. Diesen sinnlichen Mund, der ohne Laute sagt, was er sich nicht eingestehen will. Der Mann hat einen Menschen umgebracht und damit die Liebe der Frau verloren. „Die Geschichte vom Schmerz“ gehört zu der Sammlung von Geschichten und Gedichten, die kürzlich in dem Buch „Zeitgitter/Gitterzeit“ in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Tegel erschienen sind. Ausgestattet mit zuviel Zeit – Gitterzeit – und zuwenig Raum – Zeitgitter –, haben die Gefangenen Texte geschrieben, die weit mehr als nur den monotonen Alltag in Deutschlands größtem Gefängnis beschreiben. Einigen Insassen ist es gelungen, ihre Taten, als Fiktion getarnt, über die Gefängnismauern hinaus zurück ins eigene Bewußtsein zu transportieren. Ob Mörder, die zu Recht verurteilt wurden, oder ein Fluchthelfer, der vier Jahre nach dem Mauerfall rehabilitiert wurde, jeder hat seine eigene Geschichte, die er als Geschichte erzählt.

Zwei Jahre lang haben sich Gefangene, die insgesamt 120 Jahre im Knast verbracht haben, regelmäßig getroffen, um den Verlust von Freiheit, aktuelle Ereignisse, Erlebtes und Befürchtetes, Hoffnungen und Phantasien in Prosa und Gedichten zu verarbeiten. Immer wieder hat sich die Konstellation der Gruppe geändert, wurden Texte kontrovers diskutiert oder verworfen. Nicht jeder Gefangene findet über eine Literaturgruppe den Einstieg in die Resozialisierung. Nicht jeder will Buchstabe für Buchstabe zu Papier bringen, was sich auch verdrängen läßt. Leicht macht es sich keiner der sieben Autoren. Am wenigsten der, der als einziger nicht seinen Namen nennt. Verständlich, denn der Mann mit dem Pseudonym „balu“ ist Vollzugsbeamter.

Er beschreibt den Knastalltag so erschreckend kalt und traurig, daß man meint, ihn hätte ein furchtbares Verbrechen und nicht die Arbeitssuche hinter Gitter gebracht. „Einschließen, aufschließen, ich habe die Nase voll von meiner Entmündigung. Einschließen, aufschließen, ich bin kein Tier, das einen Futternapf in seiner Hütte braucht. Einschließen, aufschließen, sollte ich jemals hier herauskommen, werde ich nicht wiederkommen. Einschließen, aufschließen, jeder Tag wird zur Routine, ich habe keinen Mut mehr. Aufschließen, einschließen. Erschießen, werden die sagen, deren Gesetze ich gebrochen habe“, schreibt der Beamte in einem Gedicht.

Ob es die düsteren Zeilen des JVA-Werksmeisters sind oder lediglich Desinteresse der JVA Tegel, weshalb zur Vorstellung des Buches Ende Mai die Presse nicht rechtzeitig eingeladen wurde, darüber kann nur spekuliert werden. Für viele Insassen steht fest, daß der Anstaltsleitung nicht daran gelegen ist, das in einer Auflage von 2.000 Exemplaren erschienene Buch einem großen Publikum zugänglich zu machen.

Große Unsicherheit dagegen herrscht bei den Autoren darüber, ob die Gitter der Zeit und die Zeit der Gitter auch außerhalb der Mauern nachvollziehbar sind. Diese Zweifel können ihnen genommen werden.

„Zeitgitter/Gitterzeit“. 240 S., 12,80 DM, ISBN 3-926772-41-7, Bestellanschrift: Sozialpädagogische Abteilung der JVA Tegel, Seidelstraße 39, 13507 Berlin, Fax 4383-174

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