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Der ungekrönte König

Lange wurde er unterschätzt, heute gilt er als unschlagbar: Der Sozialdemokrat Henning Voscherau ist nicht mehr nur Hamburgs übermächtiger Bürgermeister. Er mischt inzwischen auch in Bonn kräftig mit  ■ Von Silke Mertins

Hamburg (taz) – Die jungen Leute sind aufgeregt. Wann endlich kommt Genosse Henning? An der langen Theke der Kiezkneipe „Lucky Strike“ auf der Reeperbahn sind alle Juso-Augen auf die Tür gerichtet. Dann, es geht auf Mitternacht zu, fährt der Erste Bürgermeister Henning Voscherau (SPD) vor. Es ist sein elfter Wahlkampftermin an diesem Tag. 15 Stunden ist er bereits unterwegs. Erschöpft wirkt der drahtige 56jährige dennoch nicht. Im Gegenteil. Am kommenden Sonntag ist Bürgerschaftswahl, und der seit neun Jahren amtierende Stadtchef will die 40jährige SPD-Herrschaft um weitere vier Jahr verlängern.

Bestens gelaunt läßt Voscherau sich von Lena Kuhbier, Tochter des SPD-Landeschefs, über die Tanzfläche auf die Bühne führen. Das Licht ist schummrig, die Discokugeln glitzern. Lena hat im Angesicht des Ersten Bürgermeisters die traditionell provozierende Attitüde eines Jusos gegenüber einem rechten Spitzenpolitiker vergessen. Sie will wissen: „Henning, warum fühlen junge Leute sich von Hamburg so angezogen?“ Derlei Fragen hört Voscherau gern. Die Sätze über die sozialdemokratische Schönheit der Stadt sprudeln nur so aus ihm heraus, er sonnt und räkelt sich im Scheinwerferlicht.

Die Musik spielt auf. Doch mit den Jusos tanzen darf der Bürgermeister leider nicht. Seit Parteichef Oskar Lafontaine sich hüftschwingend blamierte, ist das rhythmische Reiben an der Frische der Jugend tabu, auch wenn der Hamburger glaubt, daß er eine bessere Figur abgeben würde. „Ich bin eben schlank und sportlich“, sagt der schmächtige Hockeyspieler.

Voscherau hält sich nicht für eitel, sondern für gut

Das Bad in der Menge ist Voscherau angenehm. Er flattert behende von einem Grüppchen zum nächsten, scherzt hier, witzelt dort. Sogar eine Mafioso-Sonnenbrille läßt er sich aufsetzen und posiert damit, ganz Abkömmling einer Schauspielerfamilie, für die Kameras. „Der ist so locker“, schwärmt die 18jährige Arefeh, „und so modern.“ Nur einmal ist sie ihm begegnet, und jetzt kann er sich sogar an sie erinnern. Arefeh strahlt. Voscherau vergißt selten ein Gesicht. Noch seltener straft er jemanden, auch wenn er ihn für unwichtig hält, mit Nichtbeachtung. Die ist für seine politischen GegnerInnen reserviert.

Für die grüne Spitzenkandidatin Krista Sager zum Beispiel, deren Gegenwart bei dem schmallippigen Notar mit dem sorgsam kultivierten Hanseatentum ein einziges Unwohlsein auslöst. Er kann sie nun mal nicht leiden, auch wenn – oder gerade weil – er sie für eine „gefährliche Gegnerin“ hält. Doch so richtig zu schaffen macht ihm die grüne Promi-Konkurrenz nicht. Im Gegensatz zu anderen Großstädten können Hamburgs Sozis mit satten 40 Prozent rechnen. Und weil Voscherau selbst mit 60 Prozent sogar noch beliebter ist als seine Partei, läßt er sich von einer Welle wohliger Selbstzufriedenheit tragen. Allein, daß andere die „klugen und weitsichtigen Dinge“, die er der Welt mitzuteilen hat, nicht immer genügend zur Kenntnis nehmen, macht ihm zuweilen zu schaffen. Hat er mit seinen Ansichten zur inneren Sicherheit einen Sturm im Blätterwald ausgelöst oder etwa Gerhard Schröder? Das politische Geschäft ist so ungerecht. Voscherau hält sich nicht für eitel, sondern für gut.

Er hatte schon lange darauf gewartet, daß seine Stunde in Bonn schlägt. Nur weil der Helmut-Schmidt-Zögling schon immer zu den rechten Roten und nicht zum Klüngel der Alt-68er gehörte, so seine grimmige Überzeugung, blieb er so lange ein sozialdemokratisches Mauerblümchen. Doch seit das Proletariat nicht mehr befreit, sondern am Sortiment von Aldi teilhaben will, sind Männer wie er bei der SPD wieder gefragt. „Tüchtig“, „fleißig“ und „anständig“ gehört zu Voscheraus Standardvokabular. Auch das Wort „Leistung“ nimmt er mit Wonne in den Mund. Und endlich, im vergangenen Jahr, nahmen auch die Bonner Genossen den Hamburger zur Kenntnis und machten ihn zum Koordinator in der Finanz- und Steuerpolitik. Seitdem geht es steil bergauf. Inzwischen gibt es keine Ausgabe des Spiegel oder der Zeit, in der Voscherau keine Erwähnung findet. Aus dem „Provinzfürsten“ (Sager über Voscherau) ist ein Bundespolitiker geworden, an dem kein sozialdemokratisches Schattenkabinett mehr vorbeikommt.

Scheinmonarchie mit demokratischem Antlitz

Noch kokettiert Voscherau damit, daß seine First Lady Annerose, mit der er drei Kinder hat, ihm den Sprung nach Bonn ohnehin nicht erlauben würde. Die Betonung liegt auf „Bonn“. Außerdem möchte er den HamburgerInnen am 1. Januar 2000 im Turmsaal des Rathauses als Bürgermeister ein schönes neues Jahrtausend wünschen. Die Betonung liegt auf „möchte“. Was am neuen Regierungssitz Berlin geschieht – wer weiß? Im Jahre 2002 braucht die SPD wieder einen Kanzlerkandidaten, oder? Voscherau blickt listig drein. Sich aufzudrängen, dazu wäre sich der Hanseat mit dem Hang zum selbstverliebten Understatement viel zu fein. Doch längst tanzen nicht mehr nur die Hamburger Genossen nach seiner Pfeife. Auch bundespolitisch gibt er Themen vor. Voscherau schlägt eine Bresche für die kontrollierte Abgabe von Heroin. Der Spiegel titelt: „Heroin vom Staat?“ Voscherau verlangt von der Polizei null Toleranz nach New Yorker Vorbild. Der Spiegel titelt: „Aufräumen wie in New York?“ Mehr Obrigkeitsstaat, schärfere Gesetze und ausländische Kriminelle, die deutsche Knäste verstopfen, beschwört der „rote Sheriff“ herauf. Der Ruf nach der harten Hand schallt durch die ganze Stadt.

Doch wenn Voscherau mit seinem Wahlkampfbus in den gebeutelten Stadtteilen unterwegs ist, weiß auch er nicht immer, wie er die Geister, die er gerufen hat, in den Griff bekommen soll. „Hier müßten Sie mal wohnen für ein Jahr!“ schreit eine ältere Frau auf dem von trostlosen Wohnsilos umringten Wilhelmsburger Marktplatz ins Mikro. Der Dreck, die Ausländer, die Sozialhilfeempfänger und – vor allem – die Kriminalität!

Ob Voscheraus Strategie, den Rechten Stimmen zu entziehen, aufgeht? Keiner glaubt es – bis auf die Sozis selbst. Gab es im vergangenen Jahr noch einen gellenden Aufschrei, als der Bürgermeister das Betteln in der Innenstadt verbieten lassen wollte, muckt nun niemand gegen den ungekrönten König auf. Derart übermächtig thront er auf dem Chefsessel, daß selbst reformfreudige Sozialdemokraten resigniert feststellen: „Wir haben eine Scheinmonarchie mit demokratischem Antlitz.“

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