: Wenn nachts der Wolf kommt
In Rumänien ist das verträgliche Zusammenleben von Mensch und Wolf Alltag. Nun soll ein Biosphärenreservat auch den Tourismus ankurbeln. Vor allem westeuropäische Trophäenjäger kommen nun ■ Von Pieter Poldervaart
Auf klapprigen Fahrrädern holpern uns die drei Schnitter entgegen, ihre Sense geschickt am Velorahmen fixiert, und pfeifen sich den Weg frei – Klingeln ist in Rumänien unüblich. Wir befinden uns auf einem staubigen Industrieareal sieben Kilometer entfernt von Brașov, der viertgrößten Stadt des Landes. Im Hintergrund rattert der Schnellzug Budapest–Bukarest vorbei, vor den Gleisen stemmen sich die häßlichen Gebäude der lokalen Brauerei in den Abendhimmel. Und gleich in unserem Rücken beginnt die erste Zeile der schmucken Einfamilienhäuschen inmitten ihrer dicht mit Bohnen, Tomaten und Gurken bepflanzten Gärten.
„Wolfsrevier“, erklärt Christoph Promberger. Auf unsere verdutzte Reaktion hin fügt er an, bloß 700 Meter von unserem lärmigen Standort entfernt habe im letzten Jahr die Wölfin Timish ihre Jungen geboren. „Das Umfeld ist für die Tiere ideal“, erklärt Promberger, der mit seinen fast zwei Metern Größe, dem dunkelbraunen Wuschelkopf und den schmalen Augen einen glaubwürdigen Wolfsspezialisten abgibt. Die Agglomeration von Brașov ist für die Tiere deshalb interessant, weil in nur drei Kilometern Entfernung die städtische Abfalldeponie vor sich hinschwelt. Hier frißt sich das Wolfsrudel am Müll satt, jagt Ratten, Katzen oder kleine Hunde. Auf der vorgelagerten Ebene weiden zudem regelmäßig Schäfer ihre Herden. Und wenn diese Nahrungsquelle ausbleibt, machen Timish und ihre jährigen Welpen Jagd auf die unzähligen Kaninchen.
Auch wenn der Stadtrand von Brașov für Wölfe ein attraktives Jagdrevier ist, zum Überleben der Tiere reicht das chaotisch verbaute Gelände nicht. Als Rückzugsgebiet dienen ihnen die rumänischen Karpaten mit ihren schier endlosen Waldgebieten. „Am Beispiel Brașov konnten wir nachweisen, daß diese Großräuber erstaunlich anpassungsfähig sind und sich auch in Landschaften zurechtfinden, die der Mensch drastisch umgestaltet hat“, erklärt Promberger.
Der erst 32jährige gelernte Förster hat sich unter anderem im kanadischen Yukon-Becken auf Wildbiologie spezialisiert und dort seine Diplomarbeit über Wölfe verfaßt. „Mir schwebte immer vor, Wolf-Managementpläne für Europa zu entwickeln“, so Promberger. Der Zufall wollte es, daß sich eine Woche vor seiner Rückkehr aus Kanada der Outdoor-Ausrüster Jack Wolfskin bei der Wildbiologischen Gesellschaft München gemeldet und erklärt hatte, man sei auf der Suche nach einem Sponsoringprojekt. Promberger griff zu, mobilisierte bei der Stiftung Europäisches Naturerbe (Euronatur) zusätzliches Geld, koordinierte die Zusammenarbeit mit dem staatlichen rumänischen Forstlichen Forschungs- und Managementinstitut (ICAS) und reiste 1993 erstmals nach Transsylvanien, um das Gebiet und dessen Bevölkerung näher kennenzulernen. Denn hier leben heute noch rund 3.000 Wölfe, europaweit die dichteste Population. Heute arbeitet ein halbes Dutzend ICAS-Biologen, Studentinnen und Freiwillige im Gebiet Piatra Craiului (Königsstein). Kernpunkt des inzwischen größten europäischen Wolfforschungsprojektes ist die Ausrüstung einzelner Tiere mit Sendern, um mittels Telemetrie ihr Verhalten und ihre Wanderungsbewegungen verfolgen und analysieren zu können. Untersucht wird auch, wodurch die in Rumänien inzwischen vollständig geschützten Großräuber gefährdet sind – etwa durch eingeschleppte Krankheiten.
Die Wölfe um Brașov jagen zwar regelmäßig zwischen den Häusern, überqueren sogar Eisenbahn und Hauptstraße ohne Hemmungen und kehren oft erst im Morgengrauen zurück, wenn die Bevölkerung bereits auf dem Weg zur Arbeit ist. Doch kaum jemand bemerkt die Tiere, und wenn, dann hält man sie oft für Schäferhunde. Die Tatsache, daß im rumänischen Transsylvanien 40 Prozent der Wölfe, 60 Prozent der Braunbären und ein Drittel der Luchse Europas (ohne Rußland) leben, ist auch einer Toleranz gegenüber den wilden Tieren zu verdanken, wie sie im übrigen Mitteleuropa, das schon seit hundert Jahren wolfsfrei ist, undenkbar ist.
Jahrzehntelang wurde der Wolf als grausame Bestie dämonisiert und verfolgt. Auch in Rumänien werden zwar Geschichten erzählt wie jene über das blutige Schicksal des Försters Gheorghe Matei, von dem bloß noch die sauber am Knöchel abgebissenen Füße in den Stiefeln gefunden worden seien. „Das Lügenmärchen haben wir schon ein halbes Dutzend Mal gehört, doch wir kennen Matei – ihm geht es blendend“, kommentiert der Biologe Lucian Petre, der vom ICAS für das Projekt zuständig ist. Tatsache ist, daß entgegen den unzähligen Überlieferungen und Fabeln weltweit kein einziger Fall dokumentiert ist, bei dem Wölfe einen Menschen zu Tode gebracht hätten.
Natürlich herrscht nicht überall Freude über die 3.000 Wölfe, die in Rumänien jedes Jahr ebenso viele Schafe reißen. „Doch wer gute Hirtenhunde hat und aufpaßt, braucht kaum etwas zu befürchten“, meint Aron Bandrea. Der 60jährige arbeitet als Baçi, als Chef einer siebenköpfigen Schäfergruppe, auf den Weiden hoch über Brașov. Die Männer betreuen rund 400 Schafe und verarbeiten deren Milch über offenem Feuer zu Käse. In der engen Alphütte bekommen wir das traditionelle Schäfergericht serviert, Mamaliga: faustgroße Maisballen mit einem Stück Käse darin, der durch die Wärme schmilzt und wie Raclette schmeckt. Bandrea streicht durch sein struppiges, graues Haar und deutet auf das Schafgehege. „In diese Einzäunung treiben wir die Tiere Abend für Abend, schon das hält viele Wölfe vom Räubern ab.“
Um die Reviere von Wolf und Bär in Rumänien zu erhalten, wird jetzt mit Hilfe der Weltbanken ein Biosphärenreservat gemäß Unesco-Definition eingerichtet. Auf einer Fläche von 1.500 Quadratkilometern, einer Fläche doppelt so groß wie Hamburg, werden verschiedene Zonen geschaffen, in denen teils ein vollständiger Schutz, teils eine eingeschränkte Nutzung vorgesehen sind. Auch in Zukunft soll es möglich sein, auf kleinen Flächen Holz zu schlagen und es mit Pferdefuhrwerken aus dem Wald zu schleppen. Auch die Schafherden werden nicht verschwinden, denn nur dank ihnen gibt es im Tal artenreiche Heuwiesen, die auch heute noch schonend mit der Sense gemäht werden. Nicht Naturschutz als Selbstzweck also, sondern der Erhalt des seit Jahrhunderten eingespielten Zusammenlebens von Mensch und Tier steht hinter der Idee, einen ganzen Lebensraum unter Schutz zu stellen. Die Verantwortlichen verhehlen nicht, daß es beim Reservat nicht einzig um Wolf und Bär geht. „Die Großsäuger sind Aushängeschilder, um die europäische Öffentlichkeit auf die Gefährdung dieses riesigen, weitgehend intakten Waldgebiets aufmerksam zu machen“, betont Heinz Stalder, Projektleiter Osteuropa beim WWF Schweiz. Die Umweltorganisation hat deshalb für die kommenden drei Jahre einen Kredit von 400.000 Franken bewilligt. Ohnehin sei es unsinnig, Großsäuger in ein bestimmtes Gebiet verbannen zu wollen – Wölfe etwa wandern mehrere hundert Kilometer weit.
Im Reigen der ehemaligen sowjetischen Satellitenstaaten geht es heute Rumänien wirtschaftlich wohl am schlechtesten. Das durchschnittliche Monatseinkommen wird mit 360 Mark beziffert, offiziell ist jede und jeder fünfte arbeitslos. Jeder dritte arbeitet in der kaum industrialisierten Landwirtschaft, die Dörfer mit ihren unbefestigten Straßen erinnern an Westeuropa vor hundert Jahren. Besonders gravierend ist die Lage in der 28.000 EinwohnerInnen zählenden Kleinstadt Zarnesti, rund 15 Kilometer von Brașov entfernt und am Rande des geplanten Biosphärenreservats gelegen.
Zarnesti war bis zur Wende 1989 eine geschlossene Stadt, weil die angebliche „Fahrradfabrik“ nicht nur Stahlrösser, sondern auch kräftig Munition und andere Waffenbestandteile herstellte. Heute hat selbst die Armee kein Geld mehr, Fahrräder werden billiger aus der Tschechischen Republik importiert – nichts geht mehr.
Auch die zweite große Industrieanlage, eine Papierfabrik, rostet vor sich hin. Es fehlt an Geld für Investitionen, der Absatz der qualitativ minderwertigen Produkte ist praktisch zum Erliegen gekommen. Wie viele der in diesen beiden Fabriken ursprünglich 15.500 Beschäftigten heute noch arbeiten, ist unklar. Hinter vorgehaltener Hand erzählt man sich, daß die überwiegende Mehrheit zwar noch einen Arbeitsvertrag vorweisen kann, in Tat und Wahrheit aber zu Hause sitzt oder einer anderen Beschäftigung nachgeht.
„Wir brauchen die Wölfe – für den Fremdenverkehr“, erklärt deshalb Bürgermeister Georghe Lupu. Von seinen ursprünglichen Plänen, Seilbahnen, Tourismuszentren und geteerte Straßen in die unberührte Landschaft zu klotzen, ist er zwar inzwischen abgekommen, doch Lupu hat eingesehen, daß sein wilder Namensvetter zur Attraktion für ausländische Tierfreunde werden könnte, auch wenn ihn deren Interesse anfänglich verwirrte: „Wolfstourismus bei uns, das wäre ja, wie wenn die Schweizer einen Feldhasentourismus aufziehen wollten“, so denken heute noch viele Bewohner Transsylvaniens. Immerhin haben dieses Jahr schon sechs Reisegruppen den Weg in die Karpaten gefunden, wo sie die Wölfe mit Hilfe der Telemetrie in der Nacht verfolgen und geführte Wanderungen ins Biosphärenreservat unternehmen. Um die Wildtiere auch aus der Nähe beobachten zu können, leben im Camp zwei gezähmte Wölfe. Die Zahl von heute hundert Touristen könnte noch deutlich gesteigert werden, ohne daß die Natur Schaden nimmt. Nicht nur lokale Führer profitieren von den Naturinteressierten. Ioana und Nicolai Dobre etwa führen im Dorf Bran eine gut ausgestattete Pension. Vom Holz zur Warmwassererhitzung in den Duschboilern bis zu einem dem Feta ähnlichen Käse oder Tomaten und Peperoni stammt alles aus der nächsten Umgebung – und beschert der Lokalbevölkerung einen willkommenen Zusatzverdienst. Interessant sind die Touristen auch als Abnehmer der beliebten Souvenirs: dicke, handgestrickte Pullover aus eigener Schafswolle.
Auf dem Programm der Westler steht auch das Beobachten von Braunbären, die zum Teil bis in die Wohnquartiere vordringen und nachts die Abfallcontainer nach Eßbarem durchwühlen. 5.500 Bären leben in Rumänien. Überlebt haben sie dank der ausgedehnten Wälder, aber auch dank des Diktators Nicolae Ceaușescu: Er hatte den Abschuß der begehrten Tiere unter drakonische Strafe gestellt und fütterte Meister Petz jeden Winter tonnenweise mit teuer importiertem Kraftfutter. Nur dem Kommunistenchef selbst war es gestattet, Bären zu erlegen; auf einzelnen Jagden brachte er bis zu 30 Stück zur Strecke.
Nach der Exekution Ceaușescus stieg ihre Zahl 1989 im Nu auf 8.000 Exemplare. Heute ist der jährliche Abschuß auf hundert Tiere beschränkt. Vor allem Trophäenjäger aus Deutschland, Belgien, Italien und der Schweiz klettern in die komfortabel mit Bett und Toilette ausgestatteten Hochsitze und warten, bis das Tier an den nahen Luderplatz kommt. Dabei wird der Köder so an einem Querbalken aufgehängt, daß das Tier in idealer Abschußposition vor die Flinte tritt. Ethisch mag diese Art des „Jagens“ fragwürdig sein. Trotzdem ist die Trophäenhatz, für die bis zu 30.000 Franken pro Tier bezahlt werden, paradoxerweise der vielleicht einzig wirksame Schutz für die Art, erklärt Christoph Promberger: „Nur weil die Bären zur geschätzten Devisenquelle geworden sind, nimmt die Bevölkerung den gesetzlichen Schutz auch wirklich ernst und läßt das Wildern sein.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen