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„Mircos Tod war die Scheidelinie“

Am Mittwoch werden im Neuwiedenthal-Prozeß die Urteile gesprochen: Auf der Anklagebank saßen acht Jugendliche – und das Phänomen Jugendkriminalität an sich  ■ Von Elke Spanner

Warum sich der 17jährige Mirco S. aus Neuwiedenthal Ende Januar vor eine S-Bahn warf, wird auch dann noch eine offene Frage sein, wenn am Mittwoch die letzten Urteile im sogenannten Neuwieden-thal-Prozeß verkündet werden. Mit ihnen wird ein Strafverfahren abgeschlossen, das zwar einen tragischen Hintergrund, diesen jedoch nicht zum Gegenstand hatte.

Dennoch saßen für die Öffentlichkeit nicht acht Jugendliche, sondern die Jugendkriminalität an sich auf der Anklagebank. Eingefordert wurde weniger die Aburteilung einzelner Delikte als die Bekämpfung dieses Phänomens. Der Prozeß, eröffnet im Wahlkampf, galt als Prüfstein, wie ernst Hamburg „das Problem“nimmt. Als die ersten drei Teilentscheidungen publik wurden, geißelte Ex-Bürgermeister Henning Voscherau diese öffentlich und ohne Kenntnis des Verfahrens als „zu lasch“.

Acht Jugendliche im Alter zwischen 17 und 21 Jahren waren angeklagt, als das Verfahren Mitte August eröffnet wurde. Die Staatsanwaltschaft warf ihnen mit 38 Straftaten einen Streifzug quer durch das Strafgesetzbuch vor, vom einfachen Diebstahl bis zur schweren räuberischen Erpressung. Als „Stubbenhof-Gang“sollen sie den Stadtteil Neuwiedenthal terrorisiert haben.

Dort lebte auch Mirco, der sich im Januar das Leben nahm und in einem Abschiedsbrief von „Abzockereien“berichtete. Damit schien er einen Bann gebrochen zu haben. Plötzlich erzählten rund 40 Jugendliche aus dem Stadtteil der Polizei ähnliche Erlebnisse, berichteten von Erpressungen, Diebstählen und vor allem von der Angst, die alle vor der „Stubbenhof-Gang“gehabt hätten. Namen hatte Mirco nicht genannt. Die anderen nannten welche.

Die Brüder Amor und Sadok S. sitzen seit Februar in Untersuchungshaft, die Verfahren gegen Yasar U. und Cihan Y. sind mittlerweile eingestellt. Der älteste der Angeklagten, der 21jährige Numan K., wurde wegen Raubes bereits zu einer Jugendstrafe von einem Jahr auf Bewährung verurteilt.

Amor und Sadok S. sowie Kenan K. und Manuel K. werden am Mittwoch ihr Urteil hören. Geht es nach der Staatsanwaltschaft, landet das Brüderpaar für Jahre im Gefängnis. Für Amor beantragte Staatsanwalt Carsten Boddin drei Jahre und neun Monate Haft, für Sadok zwei Jahre und neun Monate. Für Kenan K. plädierte der Ankläger auf eine neunmonatige Jugendstrafe, ausgesetzt zur Bewährung, für Manuel K. auf einen Schuldspruch, der vorerst ohne Strafe bleiben soll. Amor und Sadok gelten als Köpfe der Gang. Einen Großteil dessen, was ihnen zur Last gelegt wird, haben sie eingeräumt. Auch die rund 40 ZeugInnen nannten immer wieder beider Namen, meistens aber auch nur diese.

Bei Kenan K. und Manuel K. wurde die Mehrzahl der Anklagepunkte inzwischen eingestellt. Die übrigen Taten sollen sie alleine begangen haben. Im Dunkeln blieb deshalb während des Prozesses, ob tatsächlich, wie die Staatsanwaltschaft es tat, von einer „Gruppe“ausgegangen werden kann, die gemeinsam Taten plante und ausführte. Oder ob der Mythos der „Gang“nicht doch erst nach Mircos Tod geboren wurde.

Zweifel hat selbst das Gericht. Bei den ersten drei Entscheidungen im September betonte der Vorsitzende Richter am Landgericht, Günther Bertram: „Ihnen ist nicht nachzuweisen, daß sie Mitglied einer Bande waren.“Die Beobachtung teilt auch Rechtsanwalt Dieter Magsam. Er vermutet, daß die lose Clique nach dem Tod Mircos zu einer einheitlichen Gruppe hochstilisiert worden war. „Vorher haben sich die Jugendlichen aus dem Stadtteil getroffen und zusammen abgehangen. Der Tod von Mirco war eine Scheidelinie.“Auf der plötzlich in gut und böse unterteilt worden sei. „Im kollektiven Bewußtsein war klar, daß diese Jungs viel miteinander zu tun hatten.“

Qualitativ sei es aber ein erheblicher Unterschied, ob man „aus Freundschaft den Mund hält oder selbst Mittäter ist“. Darüber sehe auch das Gericht hinweg, wie sein Kollege Arne Dahm moniert. Wohl hätten viele ZeugInnen Angst „vor denen“gehabt. Diese Angst wolle die Staatsanwaltschaft jedoch jedem Einzelnen zurechnen – auch wenn dieser selbst keinerlei Gewalt begangen hätte. Nun sei die Anklage zusammengeschrumpft. Dahm: „Der Vorwurf, die Gruppe habe den Stadtteil terrorisiert, läßt sich nicht aufrechterhalten.“

Da auf diesem Vorwurf jedoch das ganze Strafverfahren basierte und von diesem ein rigoroses Vorgehen gegen jugendliche Kriminelle erwartet wurde, war der Druck auf alle Beteiligten groß. Von allen Seiten wurde das Verfahren politisiert, und alle warfen sich gegenseitig vor, eben dies zu tun. Der Vorsitzende Richter Bertram hatte sich, nachdem er das Verfahren bereits übernommen hatte, im Hamburger Abendblatt für die Wiedereinführung geschlossener Heime stark gemacht. Das hatte ihm den ersten Befangenheitsantrag eingebracht. Vier weitere folgten.

Bertram hingegen schien eine aktive Verteidigung zu fürchten. So schloß er den Verteidiger Uwe Maeffert vom Verfahren aus, weil dieser ZeugInnen durch massive Befragung verunsichert und in nur sieben Verhandlungstagen drei Befangenheitsanträge gestellt habe. Gegen den Willen seines Mandanten entpflichtete der Richter den Anwalt. Ein in der bundesdeutschen Rechtsgeschichte einmaliger Vorgang, der aufgrund Maefferts Beschwerde noch das Oberlandesgericht beschäftigen wird.

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