: Kohl und Chaos
■ Seit Kohls Schäuble-Wahl gerät die Koalition anscheinend aus den Fugen
Es gehört zum politischen Mythos Helmut Kohl, daß er es schafft, in aussichtsloser Lage das Ruder herumzureißen. Gerade wenn die Meinungsumfragen verheerend, die Stimmung in der Partei mies und keine Strategie zu erkennen war, glückten Kohl stets unvorhersehbare Siege.
Ist es diesmal anders? Versagt das System Kohl? Neu ist, daß es erstmals das eigene Ende in Betracht zieht. Und das kann, auch in einer so ordentlichen Partei wie der CDU, nur wirr und widersprüchlich vonstatten gehen – zumal das oberste Ziel des Systems Kohl stets der Machterhalt war. Dieses Chaos spiegelt sich in Kohls Ankündigungspolitik, die wohl selbst Pastor Hintze Rätsel aufgibt. So verkündete Kohl seinen Willen, Schäuble als Nachfolger zu inthronisieren erst nach dem Parteitag. Damit versäumte er die Chance jene Einheit von Kanzler und Nachfolger zu inszenieren, die nun heftig angezweifelt wird. Tags darauf erklärte Kohl, „natürlich“ werde er bis 2002 regieren. Wozu, fragen sich nun auch CDU- Parteisoldaten, dann das ganze Getöse? Denn die Idee, Schäuble 2002 ohne Amtsbonus ins Rennen zu schicken, ist töricht. Will Kohl also bis 2006 Kanzler bleiben? Und wenn, warum tritt er dann heute eine Nachfolgerdebatte los? Dieses Durcheinander ist etwas mehr als eine Folge politischer Ungeschicklichkeit – es reflektiert das kommende Dilemma der CDU.
Das Stichwort dazu hat Kohl selbst gestern geliefert: Er werde 1998 keinesfalls Kanzler einer Großen Koalition werden. Will sagen: Die CDU tritt 1998 mit zwei Kandidaten und Konzepten an. Wenn die Koalition siegt, bleibt Kohl – wenn nicht, kann Schröders SPD Juniorpartner von Kanzler Schäuble werden. So rüstet Kohl die CDU für den Fall, daß die Westerwelle-FDP unter fünf Prozent rutscht. Deshalb hat er Schäuble ins Spiel gebraucht. Auch wenn die Union derzeit einen zerzausten Eindruck macht – dies ist die politische Ratio hinter den Scharaden.
Wie die SPD, die mit Schröder und Lafontaine – also der Option auf Rot-Grün und eine Große Koalition antritt – fährt auch die CDU nun eine Doppelstrategie. Sie vertritt zwei im Grunde konkurrierende Konzepte. Die Kunst besteht darin, dem Publikum zu verstehen zu geben, daß es sich dabei eigentlich um eines handelt. Allzu viel Geschick hat Kohl dabei nicht bewiesen. Allerdings – siehe oben. Stefan Reinecke
Bericht Seite 5
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