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Integration unter Vorbehalt

■ Verfassungsgericht hilft behinderter Schülerin nicht

„Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ So steht es seit 1994 im Grundgesetz. Dem Wortlaut nach ist also nicht mehr garantiert als die Gleichbehandlung von Behinderten und Nichtbehinderten. Ob damit auch besondere Aufwendungen des Staates gefordert sind, um Behinderte in einen normalen Alltag zu integrieren, geht aus dem Grundgesetz nicht hervor.

Daß dies eine praktisch äußerst relevante Frage ist, zeigt der Fall, den das Bundesverfassungsgericht gestern zu entscheiden hatte. Eine 13jährige, körperbehinderte Schülerin sollte von der Gesamtschule, die sie bislang besuchte, auf eine Sonderschule wechseln, denn dort könne ihr „sonderpädagogischer Förderbedarf“ besser befriedigt werden. Eine Kommission hatte festgestellt, daß die Schülerin fünf Stunden pro Woche mathematischen Einzelunterricht und Unterrichtsbegleitung durch eine pädagogisch ausgebildete Stützkraft in allen anderen Fächern benötige. Die Gesamtschule sah sich zu dieser Zusatzbetreuung nicht in der Lage.

Auch das Verfassungsgericht wollte dem Mädchen nicht helfen und lehnte seine Klage ab. Diese Entscheidung kommt nicht überraschend. In Zeiten schwindsüchtiger Kassen wäre ein „absoluter“ Anspruch auf Integration eine kleine Sensation gewesen. So wurde die integrative Beschulung Behinderter unter den Vorbehalt des „Vertretbaren“ gestellt. Was im Einzelfall jedoch „vertretbar“ ist, bleibt einem Verfahren überlassen, in dem Eltern und Kindern mit ihrem Anliegen immerhin ernst genommen werden müssen.

Das Erfreuliche der gestrigen Entscheidung ist, daß – entgegen dem ersten Anschein – auch das Verfassungsgericht das Anliegen der Schülerin ernst genommen hat. Die zuständige Bezirksregierung dagegen bestritt rundweg, daß die Einweisung in eine Sonderschule überhaupt eine „Benachteiligung“ darstelle. Schließlich könnten dort sämtliche Abschlüsse des allgemeinbildenden Schulwesens erworben werden. Diese Ansicht war lange Zeit vorherrschend, die separate Beschulung galt vor allem als Chance für Behinderte.

Heute dagegen erklärt selbst das Verfassungsgericht, daß die integrative Beschulung aus pädagogischer Sicht eine „verstärkt realisierungswürdige Alternative“ darstelle. Das sollte, wenn die erste Enttäuschung verraucht ist, nicht zu gering geachtet werden. Christian Rath

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