■ „Gewalt und Vorurteil“: eine Tagung des „Berliner Arbeitskreises für Beziehungsanalyse“ und des „Zentrums für Antisemitismusforschung“. Wie entstehen Ausgrenzung, Ressentiments und Fremdenfeindlichkeit? Von Ute Scheub: Dieses sinnlose Entweder-Oder
Gewalt ist kein Ausdruck eines angeborenen Aggressionstriebs, sondern Ausdruck einer Beziehungsstörung. So lautet eine der zentralen Thesen von Thea Bauriedl. Die Psychoanalytikerin kommt zwar aus der Paar- und Familientherapie, ihre Methode läßt sich aber genausogut im sozialen und politischen Raum anwenden: in der Ausländerpolitik, bei der Arbeit mit rechtsradikalen Jugendlichen, in der Schule, in der Frauenbewegung, in der Friedens- und Konfliktforschung.
Strähnige graue Haare, vergammelte Textilien, ein Gebirge von Plastiktüten rund um die Bank, auf der sie sitzt: Schon von weitem ist die Frau in der U-Bahn-Station als Obdachlose erkennbar. Mich etwa neben die setzen? Ich gebe offen zu: Ich ekle mich. Nein, sie stinkt nicht. Ich hätte wohl gerne, daß sie stinkt, dann hätte ich eine Ausrede. Aber sie tut es nicht. In Wirklichkeit habe ich Angst vor dieser Frau. Sogar massiv. Daß sie mich anbettelt. Mein Geld will. Meine Privilegien in Frage stellt. Mein Eintreten für Schwächere, dessen ich mich so gerne rühme, ad absurdum führt. Ich will mit ihr nichts zu tun haben: Sie stört mein Wohlbefinden. Sie belästigt mich.
Zögernd nähere ich mich der Wartebank. Sie zeigt auf die Plastiktüten, die sie wie einen Verteidigungswall um sich herum aufgebaut hat: „Hier nicht. Hier ist besetzt. Da war gerade jemand, der kommt gleich zurück.“ Diesen Jemand gibt es nicht. Definitiv. Warum sagt sie das? Vorsichtig lasse ich mich in der anderen Ecke der Bank nieder. Ich zwirbele in meinen Haaren, wie ich es gerne beim Nachdenken mache. „Haare!“ höre ich sie schimpfen, „Das haart! Igitt! Weg damit!“ Sie fegt mit einer energischen Handbewegung über die Bank.
Ich unterdrücke ein Lachen. Sie hat mir meine Abwehrversuche exakt widergespiegelt. Sie hat die gleichen blöden Tricks drauf wie ich: die Projektion ihrer Probleme auf andere. Sie verhindert aktiv, daß sich jemand neben sie setzt, gar mit ihr in Kontakt kommt. Und sie gibt mir deutlich zu verstehen, daß mein Äußeres vernachlässigt ist.
Ich hätte diese Szene sicher nicht so bewußt wahrgenommen, wenn ich nicht gerade auf der Tagung „Gewalt und Vorurteil“ einen Sensibilisierungs-Schnellgang durchlaufen hätte. Es ging darum, die Dynamik zu analysieren, die aus der Angst gegen die Fremden oder das Fremde entspringt und in Ausgrenzung oder ausländerfeindlichen Gewaltakten mündet.
In die Technische Universität eingeladen hatten der erst im Juni dieses Jahres gegründete „Berliner Arbeitskreis Beziehungsanalyse“, vertreten durch die Psychotherapeutin Ute Benz und ihren Ehemann, den Historiker Wolfgang Benz vom „Zentrum für Antisemitismusforschung“. Der interdisziplinäre Diskurs am Küchentisch des Ehepaars Benz muß ein fruchtbarer sein, sonst hätte er wohl nicht Modell gestanden für den „Berliner Arbeitskreis“, der bewußt interdisziplinär arbeitet und für VertreterInnen aller Zünfte offensteht: PsychotherapeutInnen, PädagogInnen, JuristInnen, ÄrztInnen, TheologInnen, Eltern. Zu seiner ersten öffentlichen Veranstaltung lud der Arbeitskreis nicht zufällig die Münchnerin Thea Bauriedl ein. „Beziehungsanalyse“ heißt die von ihr entwickelte Methode (siehe Kasten).
Menschen, die viel Ausgrenzung erlebt haben, reagierten sich später nicht selten in einem Akt der Wiederholung an Ausländern, Obdachlosen, Behinderten oder Homosexuellen ab, so Bauriedl. Solche Personengruppen lösten alte Ausgrenzungsängste, verdrängte Schuldgefühle und verbotene Wünsche aus („die liegen alle in der sozialen Hängematte“, „ich möchte auch gerne mal...“). Politisch sei es keine Lösung, solche in der Bevölkerung vorhandenen Ängste zu ignorieren und illusionäre Bilder von einer Multi-Kulti- Idylle zu entwerfen: „Ausländerfeindlichkeit und forcierte Ausländerfreundlichkeit stabilisieren sich gegenseitig.“ Folge: „In der Politik tritt eine Lähmung ein, viele Menschen wenden sich — politikverdrossen — ab.“ Viel Kraft und Energie gehe so verloren, gewonnen werde nichts.
Versuchen wir, Bauriedls Ansatz in die parteipolitische Sphäre zu heben: Die Grünen zeichnen das Bild vom „guten Ausländer“ und den „bösen Behörden“, deren Opfer er wird. Der Schröder-Flügel der SPD zeichnet das Bild vom kriminellen „bösen Ausländer“ und den „guten Behörden“, die seiner nicht habhaft werden. Vorstellungen, die auf der emotionalen Ebene aufeinanderknallen und kaum Verhandlungsspielraum lassen. Die Hoffnung, daß eine mögliche rot-grüne Bundesregierung ab 1998 progressive Ausländerpolitik macht, kann man fast begraben.
Die Schröder-SPD zeigt sich genauso wie die CDU in den Großstädten entschlossen, die New Yorker Polizeistrategie „Null Toleranz gegenüber kleinsten Regelverstößen“ zu kopieren. Fremdländisch aussehende Menschen und Obdachlose werden starker Polizeikontrolle unterworfen und aus den Innenstädten vertrieben. Thea Bauriedl erklärt das damit, daß sie nicht gesehen werden sollen, weil sie die Angst vor sozialem Absturz wecken. Strukturelle Gewalt könne jedoch rückübersetzt werden in zwischenmenschliche Beziehungen, „und dann kann man wieder anfangen zu sprechen“. Wege aus der Gewalt, in diesem Falle gegen Ausländer und Obdachlose, bedeuten für Thea Bauriedl: Wieder miteinander sprechen. Die Abhängigkeit anerkennen, die Menschen untereinander haben. Die Angst zulassen können, die diese Abhängigkeit auslöst.
„Es ist gefährlich zu sagen, ihr seid falsch, wir sind richtig, also ordnen wir euch“, führt die Psychotherapeutin aus. Das Entweder-Oder habe eine fatale Logik. Das stimme aber auch für die Studentenbewegung von 1968, in der die gleiche Überzeugung geherrscht habe: „Wir sind die Besseren“. Die RAF habe daraus die Konsequenz gezogen: „Wir müssen die Bösen umbringen“.
Je größer die Angst, desto rigider werde das Freund-Feind-Schema gehandhabt, hat Bauriedl beobachtet. Dabei sei spätestens nach dem Ende des Kalten Krieges eine große Chance entstanden, das Schema in Frage zu stellen. „Wir müssen neue Formen von Widerstand jenseits der Lager finden“, ist deshalb ihre Devise. „Protestieren gegen das sinnlose ,Entweder-Oder‘, versuchen, ein ,Und‘ daraus zu machen. Das ,Und‘ heißt: Nicht mehr Abgrenzung und Ausgrenzung, sondern Auseinandersetzung.“ Wo hat sie das „Und“ gesichtet? „Die deutsche Gesellschaft leidet an allgegenwärtiger Stagnation“, diagnostiziert Thea Bauriedl. In München habe sie bislang keine neuen Ansätze gefunden. Sie habe jedoch auf Berlin gehofft, wo Arm und Reich, Ost und West stärker aufeinanderprallen, „vielleicht hier?“ Sie schaut aus den hochgelegenen universitären Fenstern, als läge die Antwort irgendwo da draußen. Doch der Berliner Horizont zeigt sich bloß verschwiemelt.
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