■ Grüne: Welche Rolle kann eine linksliberale Partei bei der anstehenden Deregulierung der Märkte und beim Sozialabbau spielen?: Neue Perspektiven werden erzwungen
Spätestens im Jahr 2000 kommt auf die ehemals linksökologische Partei die entscheidende Krise ihrer Geschichte zu, egal, ob 1998 dank der PDS eine Große Koalition das Land regieren oder SPD und Bündnisgrüne eine Regierung stellen werden.
1998 in die Opposition verbannt, werden Enttäuschung, Wut und hilflose Reminiszenzen an die späten sechziger Jahre zunächst rhetorische Hochleistungen und dann einen um so stärkeren Katzenjammer auslösen. Aber auch ein Wahlsieg verheißt wenig Gutes. Bei allem mutigen Widerspruch gegen Jürgen Gottschlichs Aufforderung, die Bündnisgrünen sollten sich mit einer Regierungsbeteiligung noch Zeit lassen, kann auch Andrea Fischer wenig anderes aufbieten als die Tugend der Hoffnung und eine Umdeutung der Haushaltskrise zum Instrumentarium der Wachstumskritik.
Bei alledem ist die unsinnig hochgespielte Außenpolitik noch das geringste Problem. Wenn überhaupt die sogenannte Realpolitik eine gleichsam natürliche Heimat hat, dann hier, wo – anders als im innen- und sozialpolitischen Bereich – kaum etwas zu gestalten ist. Vor dem Hintergrund einer Welt, in der in Rußland liberale Institutionen noch lange nicht konsolidiert, die islamistischen Staaten des Mittleren Ostens aber noch nicht einmal so berechenbar sind wie das instabile Rußland, sind die Positionen Joschka Fischers im höchsten Maße vernünftig und stehen objektiv nicht zur Disposition. Aber darum geht es – wie gesagt – nicht.
In Frage steht vielmehr, welche Rolle eine linksliberale Partei ökologischer Herkunft angesichts der Umstrukturierungszwänge der Weltmarkt organisierenden Kapitale spielen kann. Ein Blick auf die USA, Großbritannien, Spanien und Österreich zeigt, worum es geht: um eine weitere Verbilligung der Arbeitskraft, gekoppelt mit einer Zwangsmaßnahmen nicht scheuenden Bereinigung der Arbeitslosenstatistik, einer gründlichen Deregulierung aller Märkte, einer auf Eigentum – nicht auf Solidarität – beruhenden Sozialpolitik sowie einer auf „Noten und Werte“ (Roman Herzog) zielenden Tugendrhetorik! Daran mitzuwirken sind die Bündnisgrünen weiter, als allgemein bemerkt.
Der extrem mittelstandsfreundlichen, Austerity und Steuergerechtigkeit reklamierenden Politik der Wolf, Metzger und Scheel entspricht das naive Glaubensbekenntnis des ehemaligen Frankfurter Kämmerers Koenigs an den Markt. Den von ihm gewünschten Rückzug des Staates aus ökonomischen Aktivitäten ergänzt er um die gar nicht zivilgesellschaftliche Forderung nach dessen autoritativer Erneuerung. Gleichzeitig wird die „Ökosteuer“ zwar noch proklamiert; aber alle wissen, daß der Benzinpreis kaum je über eine mäßige Erhöhung der Mineralölsteuer hinauswachsen wird. All dies wird begleitet von bescheidenen und durchsetzbaren, weil ökonomisch unerheblichen Reformforderungen im Bereich der Bürgerrechte: der partiellen rechtlichen Gleichstellung von Lesben und Schwulen mit heterosexuellen Männern und Frauen, einem moderaten Einwanderungsgesetz, vielleicht sogar einer Änderung des völkischen Staatsangehörigkeitsrechts.
Ist dieses Projekt realistisch? Der Weg von Gesellschaften auf eine ihren wirtschaftlichen Machthabern genehme Ausgangslage für die Konkurrenz auf dem Weltmarkt verläuft unterschiedlich. Nimmt man jedoch die USA und Großbritannien als Maß, Staaten, in denen Clinton und Blair in der Sozialpolitik erfüllen, was Reagan & Bush, Thatcher & Major in der Arbeits- und Tarifpolitik begonnen haben, so wird die Bundesrepublik zunächst den Sozialstaat weiter demontieren müssen. Dies mag angesichts des sinkenden Steueraufkommens zwingend sein. Und es ist gar nicht zu bezweifeln, daß eine verantwortliche, irgendwie an Gerechtigkeit orientierte Einschränkung von Leistungen allemal einem neoliberalen Kahlschlag vorzuziehen ist. Aber: kann das Projekt einer abgefederten Anpassung an ökonomische Zwänge den Wunsch nach grundlegenden Veränderungen wirklich zum Schweigen bringen?
Da das mit der real existierenden grünen Partei nicht zu erwarten, zudem die SPD nicht New Labour ist und mithin der sogenannte Reformstau keineswegs so schnell aufgelöst wird, wie sich das manche grüne Modernisierer vorstellen, dürfte sich Rot-Grün im Bund, wie in NRW, mehr schlecht als recht dahinquälen. Aber auch wenn der Bund von einer Großen Koalition regiert wird, ist die Rückkehr zu Rot-Grün verspielt: Diese Konstellation hat – wenn überhaupt – ihren historischen Ort heute.
So oder so, beides – Rot-Grün im Bund oder eine Große Koalition – wird die Grünen zu neuen Perspektiven zwingen. Spätestens im Jahr 2000 werden die Karten neu gemischt – dann wird sich die Partei entscheiden müssen, ob sie mit „schwarz-grünen“ Optionen ihren langen Marsch durch die Institutionen abschließt oder ihre Dienstreise als parlamentarischer Arm einer Utopie abbricht. So oder so, spätestens im Jahr 2000 wird sich zeigen, ob der Partei die substantielle Verantwortung für diese Gesellschaft so wichtig ist, daß sie auf den Etikettenschwindel namens „Realpolitik“ verzichtet und sich den wirklichen Gefahren zuwendet, nämlich:
– dem bereits eingetretenen Ende der parlamentarischen Demokratie – sogar in ihrer aktuellen, verzerrten Gestalt – zugunsten einer mit liberalen Individualrechten verträglichen westeuropäischen Büro- und Technokratie;
– dem wahrscheinlichen Auseinanderfallen der westeuropäischen Gesellschaften in eine schmale Klasse von Kapital- und Arbeitsplatzinhabern hier und wachsenden Gruppen von Ausgeschlossenen dort; ein Prozeß, der durch Deregulierung und Markt, seien sie nun sozialökologisch moderiert oder nicht, verstärkt wird;
– dem möglichen Auseinanderbrechen der Währungsunion unter dem Druck einer vom Rechtspopulismus getragenen Protestwelle gegen die sozialen Kosten des Maastricht-Europa – verbunden mit einer Wiedergeburt von Nationalismus und Protektionismus.
In der Risikogesellschaft – so hatten wir zu lernen – sind alle möglichen Ergebnisse bedeutsamer Entscheidungen zu gewichten. Auch die unerfreulichen. Realpolitik, so wurde uns immer beteuert, besteht in der illusionslosen Bestandsaufnahme des Gegebenen und zu Erwartenden. Von der Hoffnung aber, ohne die linke Politik nun wirklich nicht leben kann, gilt erstens, daß sie keine Zuversicht ist, und zweitens, daß sie lernfähig sein sollte. Micha Brumlik
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen