Bomben, Telefone, Tabus etc.: Kein Wort, nirgends
■ Der „Spiegel“ enthüllte ein Erzähltabu der deutschen Gegenwartsliteratur: den Luftkrieg. Doch wer denkt an die Zerstörung des Telefonnetzes? Plädoyer für eine literarische Debatte
Seinen Zwillingsbruder hat Walter Benjamin den Telefonapparat genannt: „Den Hoffnungslosen, die diese schlechte Welt verlassen wollten, blinkte er mit dem Licht der letzten Hoffnung. Mit den Verlassenen teilte er ihr Bett.“ Schon zum Ende des vergangenen Jahrhunderts wußten die Menschen den Segen eines leistungsfähigen Telefons zu schätzen. Damit war es 1945 vorbei. Nachdem die deutschen Wunderwaffen aus Peenemünde auf England niedergegangen waren, ließen die Alliierten sich auch nicht lumpen. Mit den schönen historischen Altstädten und unwiederbringlichen Denkmälern (von den Opfern unter der Zivilbevölkerung ganz zu schweigen) wurde zugleich auch eine technische Errungenschaft jüngeren Datums „coventriert“, wie es im Goebbels-Deutsch hieß: das Telefonnetz.
Daß die deutsche Gegenwartsliteratur den Luftkrieg und die Zerstörung deutscher Städte schmählich vernachlässigt habe, enthüllte in der vergangenen Woche Volker Hage im Spiegel. Frank Schirrmacher nahm sich in der FAZ des Themas an und resümierte: „Etwas fehlt.“ Und schon sah Tilman Krause im Tagesspiegel „eine literarische Debatte“ heraufziehen. Doch was ist mit dem Telefonnetz? Kann es sein, daß diese Tatsache keinerlei Spuren in der deutschen Nachkriegsliteratur hinterlassen hat? Ist auch der selbstverschuldete Verlust des „Zwillingsbruders“ Telefon ein Erzähltabu in der deutschen Literatur, das mit dem schnellen Wiederaufbau des Fernsprechnetzes kompensiert wurde? Hat es an Trauerarbeit gefehlt?
Auch wenn die Spurensuche sich als schwierig erweist, es hat sie gegeben, die literarischen Reaktionen auf den Brudermord, wenn auch nur in zaghaften Andeutungen: Der Ruf hieß jene Zeitschrift von Alfred Andersch, die ein publizistischer Vorläufer der Gruppe 47 war; Anspielung genug für die amerikanische Besatzungsmacht, um das Heft 1946 zu verbieten. Noch deutlicher reagierte Heinrich Böll 1953 mit dem Titel eines Romans auf den Verlust fernmündlicher Kommunikation: „Und sagte kein einziges Wort“. Im Osten war es der Arbeiterschriftsteller Otto Gotsche, der Sekretär von Walter Ulbricht, der 1949 mit einem Romantitel andeutete, was übrig blieb, nachdem die Russen die Breitbandkabel für Bildtelephonie (ja, auch die gab es seit 1935) ausgegraben hatten: „Tiefe Furchen“. Christa Wolf legte nach mit ihrem Prosatext „Kein Wort, nirgends“.
Dies alles jedoch waren nur Ausnahmen. In ihrer Breite reagierte die Literatur in Deutschland auf die schockierende Stille in den Ohrmuscheln und die Taubheit der Mikrofone durchaus angemessen: mit bedeutungsvollem Schweigen. Die Hast, mit der neue Kabel verlegt, digitale Vermittlungsstellen errichtet und ganze Funktelefonnetze installiert wurden, kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß die deutsche Literatur sich seit mehr als 50 Jahren hartnäckig einem wichtigen Thema verweigert: der Zerstörung des Telefonnetzes im Zweiten Weltkrieg. Nur am Rande des Literaturbetriebs, vom geschäftigen Treiben des deutschen Feuilletons kaum wahrgenommen, finden sich einige Autoren, die das Thema nicht scheuen: „Liebe, Tod und Telefon“ heißt ein Buch von Delia Ephron, das die existentielle Dimension des Themas streift. In dem Band von Chris G., „Die Nummer, die Erfüllung bringt“, geht es um die Fragen der zwischenmenschlichen Beziehung auf der Ebene fernmündlicher Verständigung.
Kann es sein, daß erst heute, mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem Ende des Krieges, die eigentliche Nachkriegsliteratur entsteht? Wenn dem so ist, dann kommt die Ehrenrettung für die deutsche Literatur aus einer Ecke, die sonst nur belächelt wird. Es ist die Sparte der Dokumentarliteratur, die sich tapfer gegen den scheinbar übermächtigen Strom der Verdrängung gestellt hat, um die Leser Jahr für Jahr mit der gelungenen Symbiose aus Unterhaltung und Belehrung zu versorgen: mit dem Telefonbuch. Peter Walther
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