: Das Objektiv des gesunden Volkes
■ „Gebrandmarkte Gesichter“erinnert an die Denunzierung Behinderter im Nationalsozialismus
Politik ist nicht nur eine Sache der Sprache, sondern auch der Bilder. Wie die Nazis die Macht der Bilder instrumentalisierten, beweisen nicht nur Filme Leni Riefenstahls, sondern auch die Wanderausstellung Entartete Kunst (1937/38). Für die Ausstellung wurden zahlreiche Bilder von Künstlern wie George Grosz, Otto Dix oder Max Beckmann zusammengetragen. Jeden Autonomieanspruch der Kunst verleugnend, verurteilten die Nazis vor allem das Menschenbild der „entarteten Künstler“. Die ideologische Unterscheidung von wertem und unwertem Leben verlangte nach einer „künstlerischen“Umsetzung. Damals ahnten viele bereits: Dem ästhetischen Exzeß würde der mörderische folgen.
In seinem Buch Gebrandmarkte Gesichter zeichnet der Hamburger Publizist Christian Mürner die Entwicklung nach, die diesen Formen bildlicher Diskriminierung voranging. Dabei schlägt er notgedrungen ein dunkles Kapitel der Medizin- und Psychiatriegeschichte auf. Die schon vor der Jahrhundertwende verbreiteten Rassehygienik- und Eugenik-Debatten führten unter Medizinern und Psychiatern zu einer systematischen Auflistung von Abweichungen menschlichen Verhaltens und Physiognomien. Dazu nutzten Ärzte in psychiatrischen Anstalten auch das Mittel der Fotografie.
Der Schriftsteller Paul Schultze-Naumburg verwendete in seinem Buch Kunst und Rasse (1928) Fotografien von behinderten Menschen, um sie mit gemalten Porträts zeitgenössischer Künstler zu vergleichen. Die Fotografien entstammten der umfassenden Sammlung von Dr. Wilhelm Weygandt, dem damaligen Professor für Psychiatrie in Hamburg. Er machte die Aufnahmen in seiner anderen Funktion als Direktor der Staatsirrenanstalt Friedrichsberg (heute Allgemeines Krankenhaus Eilbek). Mürner geht es nicht nur darum, die menschenverachtende Arbeit der Psychiatrie aufzuzeigen. Vielmehr verlangt er, den überwiegend anonym gebliebenen Opfern endlich ihre Namen zurückzugeben, um die „Chance einer beschreibenden Wiedergutmachung“zu bekommen. Da die Künstler später überwiegend anerkannt wurden, greift das Vorhaben einer Diskreditierung nicht mehr. Für die Leser von Kunst und Rasse bleibt aber, ob sie wollen oder nicht, nur die objekthafte Sicht auf die unfreiwillig Fotografierten.
Für Mürner hat die fotografische Diskriminierung behinderter Menschen bis in die Gegenwart nicht aufgehört. Der Autor gibt als Beispiel die Abstimmungskampagne gegen den Bau neuer Atomkraftwerke in der Schweiz 1990. Auf einem Plakat werden ein gesundes und ein behindertes Baby gegenübergestellt. Die Botschaft ist klar: Atomkraft, nein danke! Die ideologische Implikation besagt außerdem: Behinderte, nein danke! Für den Behindertenpädagogen Mürner lautet die Frage: „Warum werden behinderte Menschen prinzipiell als Risiko dargestellt?“Und die Debatte um pränatale Diagnostik beweist ihre Aktualität.
Es fällt nicht leicht, Mürners Buch einer bestimmten Textgattung zuzuordnen. Politische Geschichte, kultur- und medizinhistorische Beschreibungen werden eng verwoben mit dem Aufzeigen ideologischer Implikationen in der Gegenwart und im politischen Engagement. Aber gerade darin besteht auch seine Stärke. Joachim Dicks
Christian Mürner: „Gebrandmarkte Gesichter – Entartete Kunst – Die Denunzierung der Bilder von psychisch Kranken, Behinderten und Künstlern“, Verlag Murken-Altrogge, 139 S., 36 Mark
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