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Sport als Inbegriff kriegerischen Heldentums

Die von Sportfunktionären gern verbreitete These vom politischen Mißbrauch des an sich reinen Sports durch die Nationalsozialisten läßt sich nicht halten. Ein Diskussionsbeitrag an der beispielhaften Geschichte des deutschen Olympiamanagers Carl Diem  ■ Von Thomas Alkemeyer

Carl Diem war einer der bedeutendsten deutschen Sportfunktionäre. Als Organisator der Olympischen Spiele von Berlin 1936 initiierte er den bis heute üblichen Fackellauf von Griechenland zum Austragungsort. Nach dem Zweiten Weltkrieg war er Mitbegründer des Nationalen Olympischen Komitees und Rektor der Sporthochschule Köln, der Kaderschmiede des Nachkriegssports. Diem war nie Mitglied der NSDAP und hat dennoch zur Verbreitung des national-heroischen Weltbilds beigetragen.

Noch bis vor kurzem galt der Sport als unpolitisch – und seine Funktionäre als honorige Männer. Verschwiegen wurde dabei stets deren Rolle im Nationalsozialismus. Carl Diem, oberster Repräsentant des NS-Sports, sprach noch am 18. März 1945 vor Einheiten von Hitlerjugend und „Volkssturm“ von spartanischer Opferbereitschaft, die „zum siegreichen Endkampf für Führer, Volk und Vaterland“ gefordert sei. Das TV-Magazin „Monitor“ machte diese Rede im Mai 1995 öffentlich. Die Präsidenten von Deutschem Sportbund (DSB) und Nationalem Olympischen Komitee (NOK) richteten daraufhin eilig eine „Expertenkommission“ ein, um „Werk und Person von Carl Diem kritisch zu würdigen“. Diese Aufregung verblüfft. Der frühere ZDF- Chefredakteur Reinhard Appel hatte bereits 1984 von Diems „Auftritt“ auf dem Berliner Olympiagelände berichtet, und in der Zwischenzeit war auch Diems stichpunktartiges Redemanuskript aufgetaucht, das die Erinnerungen des Journalisten vollauf bestätige.

Längst hatten ausgewiesene Sporthistoriker die vielen Funktionen und Ämter dokumentiert, die Diem während der Kaiserzeit, während des Nationalsozialismus und in der Bundesrepublik Deutschland ausgeübt hat: zum Beispiel als Generalsekretär des Deutschen Reichsausschusses für Olympische Spiele bzw. für Leibesübungen vor und nach dem Ersten Weltkrieg, als Prorektor der Deutschen Hochschule für Leibesübungen in Berlin zwischen 1920 und 1933, als Generalsekretär des Organisationskomitees für die Olympischen Spiele von 1936 in Berlin, als kommissarischer Leiter des Gaues Ausland im NS Reichsbund für Leibesübungen (NSRL) seit dem 22.9. 1939 oder auch als ehrenamtlicher Sportreferent der Regierung Adenauer nach 1950.

Im Gegensatz zu anderen Sportführern trat Diem allerdings nie der NSDAP bei. In den zwanziger Jahren gehörte er der nationalliberalen „Deutschen Volkspartei“ (DVP) an, 1947 wurde er Mitglied der CDU. Mit der NSDAP lag er zeitweise sogar im Clinch. Führenden Sportpolitikern der Partei galt er als „Repräsentant des verhaßten Weimarer Systems“ (Teichler). Am 1. Mai 1933 mußte er sein Amt als Prorektor der Berliner Hochschule für Leibesübungen aufgeben. Mehrfach wurde er im Völkischen Beobachter, u.a. wegen seiner Funktionärsprivilegien, seines Verkehrs mit dem Haus Ullstein, der jüdischen Großmutter seiner Ehefrau angegriffen oder auch einfach deswegen, weil die betreffenden Journalisten für sich selbst Führungspositionen im Sport beanspruchten, als „feiner Pinkel“ oder „weißer Jude“ beschimpft. Und noch im Januar 1939 machte ihn die „Gauleitung Berlin der NSDAP“ dafür verantwortlich, daß an der ehemaligen Hochschule für Leibesübungen „ein ungewöhnlicher Prozentsatz Juden als Sportlehrer und in der Verwaltung beschäftigt wurden“.

Nachweislich ist Diem zudem in seinen „privaten“ Tagebuchaufzeichnungen auf – zumindest partielle – Distanz zum NS-Regime gegangen: zum einen, weil ihm Ausmaß und Tempo der „Gleichschaltung“ des Sports zu weit gingen (obwohl er durchaus Mithilfe leistete), zum anderen aber auch, weil er den Radau-Antisemitismus der SA verabscheute – was ihn freilich nicht davon abhielt, in seiner Eigenschaft als einer „der Administratoren der ,neuen Ordnung' im europäischen Sport“ (Teichler) am 17.10. 1940 eine Anfrage bezüglich der „rassischen Abstammung“ von zwei französischen Sportfunktionären zu formulieren, deren Verband unter deutsche Leitung gestellt werden sollte.

Die Diskrepanzen zwischen Diems „privaten“ Äußerungen und seinem vielfältigen „öffentlichen“ Wirken in der NS- Zeit, das stets auch ein „Mit“wirken war, sind jedenfalls gravierend. Diems Rolle im NS-Staat läßt sich nur angemessen beurteilen, wenn seine Position in den verschiedenen Entwicklungsphasen und im polykratischen Herrschaftsgefüge des NS-Systems näher bestimmt wird. Auffällig ist zunächst, daß die Angriffe der NSDAP gegen Diem vornehmlich in die Phase der Eroberung und Formierung der Macht zwischen 1932 und 1934 fielen. Das hatte – neben vielem anderen – damit zu tun, daß Diems (sport-)politische Optionen in diesem Zeitraum noch auf wenig Gegenliebe in der Partei stießen. Denn Diem war ein Anhänger des modernen, auf meßbare Leistungen, Spezialisierung und Individualisierung angelegten Wettkampfsports. Dieser aber galt den völkischen „Alten Kämpfern“, wie dem SA-Mann Bruno Malitz oder dem Parteiphilosophen Alfred Bäumler (der nach 1933 auch die wissenschaftliche Leitung der Berliner Hochschule für Leibesübungen übernahm), als eine der „letzten Bekundungen“ von Internationalismus, Pazifismus und Liberalismus.

Anknüpfend an Vorstellungen der traditionsbewußten deutschen Turner hielten die vornehmlich in der SA organisierten populistisch-antikapitalistisch eingestellten völkischen Kräfte dem modernen Sport positiv ein auf vielseitige körperliche Ertüchtigung, Formierung zur „Volksgemeinschaft“, Wehrhaftmachung des gesamten Volkes und Soldatenromantik ausgerichtetes Sportkonzept entgegen. Der Einfluß dieser Kräfte wurde jedoch mit der blutigen Entmachtung Röhms und großer Teile der SA vom 30.6. 1934 radikal zurückgedrängt. Nur wenig später bezeichnete Hitler die Völkischen auf dem Nürnberger „Reichsparteitag der Einheit und Stärke“ explizit als „Rückwärtse“. Die Veränderungen der innerparteilichen Kräfteverhältnisse, der Übergang von der Formierungs- in die Konsolidierungsphase des Regimes, drückten sich auch in der Kultur- und Sportpolitik aus: Auf dem Gebiet der Staatsästhetik erfolgte die Abkehr von völkischen Kunsttraditionen hin zur „weltoffeneren“ Tradition des Neoklassizismus; und in der Sportpolitik fand nun zunehmend auch der moderne und in der Bevölkerung bereits sehr beliebte Leistungssport Anerkennung. Offenkundig zielte die Kultur- und Sportpolitik der staatstragend gewordenen NSDAP darauf ab, am symbolischen Kapital bürgerlicher Schichten zu partizipieren und Zustimmung in breiteren Bevölkerungskreisen zu erlangen; sektiererische Positionen wurden ins zweite Glied abgedrängt. In der Konsolidierungsphase arrangierte sich Carl Diem zunehmend mit dem Regime. Hitler hatte bereits im Frühjahr 1933 alle publizistischen Angriffe gegen ihn unterbinden lassen, der NS-Staat machte sich sein Organisationsgeschick für die Inszenierung der Olympischen Spiele von 1936 zu eigen. Beispielhaft dokumentiert sich in der Annäherung von Diem und NS-Staat die Einbindung der alten nationalkonservativen Funktionseliten ins NS-System.

Aufgewachsen unter den Bedingungen des Wilhelminismus in materiell bedrückenden Verhältnissen (dem Textilgeschäft seines Vaters blieb der Erfolg stets versagt), ohne abgeschlossene Schulausbildung (Diem verläßt das Französische Gymnasium in Berlin vorzeitig), gehörte Diem zur noch relativ jungen Generation der Erste-Weltkriegs-Teilnehmer. Die Erfahrungen an der Westfront als Leutnant der Wehrmacht prägten ihn nachhaltig. Seit der Kaiserzeit finden sich in seinen Veröffentlichungen nahezu alle Bausteine einer Ideologie, die sich später auch als Verständigungsgrundlage für eine breite konservative Anti-Weimar-Koalition eignete: die strikte Ablehnung des „politischen“ – nicht aber unbedingt des „ökonomischen“ – Liberalismus; ein tiefes „Sehnen nach dem Führer“ (Diem 1923); die sozialdarwinistische Auffassung des Lebens als Kampf; die Behauptung einer klaren Präferenz der ideologischen Gebilde von Gemeinschaft, Vaterland, Volk und Staat vor den einzelnen; die Fixierung auf die Ideen des Opfers und des heroischen Soldatentums oder auch der Glaube an die „natürliche“ Überlegenheit Deutschlands.

Eine Bündelung hatte diese Ideenmixtur in den zwanziger Jahren besonders im Langemarck-Mythos erhalten, der seinerzeit in Schulbüchern verbreitet wurde. Die drei Grundbausteine dieses Mythos – „Jungen“ (als Gegenidentifikation zur „zweckrational etablierten bürgerlich-zivilisatorischen Welt“), „Vaterland“ (als Beschwörungsformel der nationalen „Gemeinschaft“ im Gegensatz zur zerrissenen modernen „Gesellschaft“) und „Opfertod“ (als das Vorbild eines antimaterialistischen, das Eigeninteresse verleugnenden „Idealismus der Tat“) bildeten auch die Kernmotive von Diems Festspiel „Olympische Jugend“, das zur Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele von 1936 uraufgeführt wurde.

Ohne spezifisch „nationalsozialistisch“ gewesen zu sein, stellte dieses ideologische Gemenge doch einen Nährboden für den Nationalsozialismus dar. Und ohne selbst Nazis gewesen zu sein, bildeten die alten nationalkonservativen Eliten dennoch eine zweite, bis heute allerdings weitgehend unsichtbar gemachte Säule des NS- Systems. Sie waren beteiligt an Machtergreifung und Machterhaltung, sie besetzten wichtige Positionen in der Staatsverwaltung, im Auswärtigen Amt und in der Wehrmacht, und sie trugen aufgrund ihrer Meinungsführerschaft maßgeblich zur Verbreitung heroisch-nationaler Geschichts- und Weltbilder bei (M. Broszat).

Wie viele andere alte „Kriegskameraden“ flüchtet Diem sich besonders nach dem „Schandfrieden von Versailles“ in Revisionismus und heroische Kampfideologie, die er vor allem auf den sportlichen Wettkampf überträgt. Sport ist für ihn

„freiwilliges Soldatentum“, der Krieg erscheint als Fortsetzung des Sports mit anderen Mitteln: „Die fröhliche Begeisterung, die wir in friedlichen Zeiten bei einem kühnen kämpferischen sportlichen Wettstreit empfanden, ist in die Höhenlage des kriegerischen Ernstes hinaufgestiegen“, jubiliert er im Jahre 1940 unter dem Titel „Sturmlauf durch Frankreich“. Das unsägliche Pathos solcher Worte mag heute komisch klingen, war es aber nicht in einer Zeit, da der Sport planmäßig zum Inbegriff des kriegerischen Heldentums aufgebaut wurde, Sportberichterstattung und Kriegspropaganda die gleiche Sprache benutzten und so der „ungeheure Unterschied zwischen Sportspiel und blutigem Kriegsernst“ verwischt wurde (Victor Klemperer). – Offenkundig legte man es im Dritten Reich stark auf die Verdeckung dieses Unterschieds an – Sport sollte im Bewußtsein der Leute als etwas Ernstes eingeschätzt werden, der Krieg als etwas Spielerisches.

Ob Diem es nun ausdrücklich wollte oder nicht: Faktisch trug er mit seinen Interpretationen des Sports zur Verherrlichung kriegerischer Gewalt bei. Und er wirkte daran mit, den modernen Sport aus allen Verbindungen mit den Ideen des politischen Liberalismus, der internationalen Verständigung und der zivilen bürgerlichen Konkurrenz herauszulösen, in die er im bürgerlichen Denken des 19.Jahrhunderts noch eingebettet war, um ihn statt dessen in eine NS-kompatible politische Mythologie hineinzuarbeiten. Gerade die Olympischen Spiele von 1936 stellten eine großartige Aufführung der Sportler-Soldat-Synthese dar: In eingängigen Bildern erfolgte die Verschmelzung von universaler Sportkonkurrenz und deutscher Kampfesmythologie, von olympischer Wiedergeburtsidee und nationaler Erlösungsreligion, von olympischem „Geist“ von Langemarck.

Gewiß: Diem war kein völkischer Antisemit und kein überzeugter Anhänger der NS-Bewegung. Die verbreitete Reduktion des NS-Regimes auf den völkischen Bewegungsfaschismus blendet jedoch andere, ebenfalls tragende Kräfte aus: Der reale Nationalsozialismus beruhte eben nicht nur auf braunen, sondern auch auf schwarzen Fraktionen.

Mit Spürsinn und Geschick hat Diem Programme realisiert und Institutionen aufgebaut, die bis heute Bestand haben, wie das Deutsche Sportabzeichen, die Bundesjugendspiele oder die Sporthochschule in Köln. Und er hat die Reorganisation des Sports nach dem Kriege stark beeinflußt – die Gründung des NOK im Herbst 1949 geht ebenso wie diejenige der Deutschen Olympischen Gesellschaft (DOG) auf seine Initiative zurück.

Bei aller Ablehnung seiner zeitweiligen „Verirrungen“ werden selbst Diem-Kritiker nicht müde, Diems beharrliches Engagement für den Sport zu preisen – so als existiere dies unabhängig von anderen gesellschaftlichen Aspekten. Im organisierten deutschen Sport und auch in Teilen der Sportwissenschaft hat man sich auf die Formel geeinigt, der Sport sei vom NS- Staat politisch mißbraucht worden. Damit wird – ebenso wie mit der Konzentration auf die letztlich zweitrangige Frage, ob Diem denn nun ein Nazi war oder nicht – vom eigentlichen Problem abgelenkt: von der Frage nämlich, warum sich auch der moderne Sport, jenes Kind der „liberalen“ Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, relativ problemlos in das NS-System integrieren ließ. Gemeinhin wird dem individualistischen Sport – im Unterschied zum kollektivistischen Drillturnen – eine prinzipielle Unvereinbarkeit mit der NS-Ideologie unterstellt. Tatsächlich aber spielte auch der sportliche Wettkampf eine wichtige Rolle im Nationalsozialismus: in der Pädagogik als Mittel der „Auslese“ von Leistungssubjekten, in der öffentlich-repräsentativen Szenerie als Medium einer leicht verständlichen Aufführung der hochselektiven gesellschaftlichen Bedingungen des Dritten Reichs. Der Sport wurde nicht miß-, sondern auf bestimmte Weise gebraucht.

Die Fürsprecher Diems preisen sein „ganzheitliches“, Geist und Körper einschließendes Erziehungskonzept, das vom Ansatz her in der Tradition des deutschen Humanismus gestanden habe – so als wäre auch dieser Humanismus per se mit dem Nationalsozialismus unvereinbar gewesen, als hätte nicht auch er seine Rolle gespielt im nazistischen Ganzheitskult und als hätte nicht bereits Diem das „klassische“ Leitbild des an Leib und Seele „gesunden“ Menschen überführt in den Kult des für den „Lebenskampf“ „hochgezüchteten Einzelkämpfers“ sowie in biopolitische Konzepte der „Volksgesundheit“, mit deren Hilfe beispielsweise die „Großstadtentartungen“ behandelt werden sollten (Diem 1927).

Die These vom politischen Mißbrauch des an sich reinen Sports impliziert die bedenkliche Tendenz, die Frage nach der Konstanz derartiger Vorstellungen vom 19. Jahrhundert über die NS-Zeit bis in die Nachkriegszeit hinein zu unterdrücken. „Sport und Leibeserziehung fördern die Gesundheit des Einzelnen und stärken die vitale Kraft des Volkes“, können wir an anderer Stelle lesen. Nein, nicht bei Diem, und es ist auch nicht zwischen 1933 und 1945 formuliert worden. Es steht vielmehr in der Charta des deutschen Sports vom 15. Oktober 1966.

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