piwik no script img

■ QuerspalteWir erleben jetzt die Hölle

Die PsychotherapeutInnen von heute behandeln Drogensucht, Arbeitssucht, Sexsucht – warum eigentlich nicht Glaubenssucht? Glaubenssucht ist eine schwere Krankheit. Die von ihr Besessenen wechseln ihre Gottheiten schneller als ihren Schlafanzug. Was sie nicht davon abhält, ihren Glauben mit Feuer und Schwert zu verteidigen.

Horst Mahler ist solch ein Fall. Im ersten, noch mildesten Stadium seiner Krankheit glaubte er an den bevorstehenden Endsieg der Studentenbewegung von 1968. Dann glaubte er an den bevorstehenden Endsieg der RAF. Als die Entführer des CDU-Politikers Lorenz ihn freipressen wollten, blieb er stur im Knast sitzen: Der Glaube an den bevorstehenden Endsieg des Proletariats in Gestalt seiner führenden Avantgarde namens KPD hatte ihn befallen. Als er 1980 aus dem Gefängnis freikam, begann er an den bevorstehenden Endsieg des Liberalismus zu glauben: Er trat in die FDP ein und verging sich mit Schulungskursen an ungläubigen Managern.

Nun scheint Horst Mahler das letzte Stadium vor dem bevorstehenden Endsieg der Demenz erreicht zu haben. In einem Beitrag für die rechtslastige Junge Freiheit läßt er sich über das „Erbe der 68er“ aus: „Die 68er haben Tradition und Religion als weltbildprägende Mächte... zerstört und damit unser Volk der Mündigkeit einen Schritt näher gebracht... Wir erleben dieses Resultat der Kulturrevolution von 1968 jetzt als die Hölle, denn mit Tradition und Religion ist unsere sittliche Substanz verflogen... Gottes Tod ist auch der Tod des Menschen... So ist als Folge der kulturellen Defundamentalisierung das Heidentum auferstanden: Der Kulturbetrieb, der ja weitergeht wie ein Perpetuum mobile, ist nur Schein. In ihm bewegt sich nichts. Als kulturloses Volk leben wir in einer zweiten Steinzeit.“

Also: Wir sind mündige Bürger in der Hölle, und das Heidentum ist ein Perpetuum mobile in der Steinzeit. Armer Horsti. Ist sein letzter Pfarrer schreiend davongelaufen, oder hat Westerwelle ihm den Rest gegeben? Ute Scheub

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen