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Lissabons Häutungen

Von Zeit zu Zeit befällt Lissabon die Sehnsucht nach vergangenen Zeiten, eigener Größe. Die zentrale Praça do Comércio, ein offener Platz aus dem 18. Jahrhundert, spricht davon. Das Denkmal der Eroberungen ist ein Beispiel aus den Jahren der Diktatur. Jetzt gibt sich die Demokratie mit der Expo diesem Gefühl hin. Ihr Motto: „Die Ozeane, ein Erbe für die Zukunft“. Gefüllt wird es mit Erinnerungen an das atlantische Imperium und Botschaften an kommende Generationen. Lisboa 98 – zwischen Nostalgie un dem Wunsch, in Europa einen neuen Platz zu finden  ■ Von Reiner Wandler

Die Silhouette der beiden Türme weist dem Bahnreisenden schon von weitem den Weg nach Lissabon. Sie überragen die auf Stelzen ins Wasser gebaute Schnellstraße, die die beiden Ufer des Tejo verbindet. Von den Turmspitzen herab spannen sich zwei Fächer aus weißen Stahlseilen. An ihnen hängt der höchste Teil der vierspurigen Straße weit über dem Fluß, um sowohl Schiffen als Autos den Durchgang zu ermöglichen. Die neue Brücke über das Mar de Palha, das Strohmeer, jene seeförmige Verbreiterung des Tejo, an dessen Ufer – so berichtet die Legende – Ulisses einst Lissabon gründete, wurde auf den Namen Vasco da Gamas getauft, jenes Mannes, der 1497 den Seeweg nach Indien entdeckte und damit die goldene Zeit Portugals einläutete. 17 Kilometer ist das Asphaltband lang. Der in die Vergangenheit gewandte Name und die zukunftsweisende Technik sind das perfekte Symbol für Portugals doppelten Wunsch dieser Tage: an die einstige Größe zu erinnern und gleichzeitig einen Platz in der Moderne einzufordern.

Länger als jede andere Brücke auf dem alten Kontinent, reiht sich der Tausendfüßler aus Beton und Stahl ein in die Liste der epochemachenden Baudenkmäler, die die Vorstellungskraft der Menschen übersteigen, sie beeindrucken wollen und sollen. Wie die Pyramiden des antiken Ägypten, die Kathedralen des mittelalterlichen Europa oder das Empire State Building in New York: Stein gewordene Superlative.

„Auf nach Europa – auf in die Modernität“, scheint die Brücke weit ins Hinterland zu rufen, als wolle sie den Dörfern entlang dem Tejo den Kurs weisen. Dort, an der Zugstrecke Madrid-Lissabon, treiben noch immer kleine, längliche Fischerboote auf dem Fluß. In den Dörfern sind längst noch nicht alle Straßen asphaltiert. Wie schon vor Jahrzehnten warnen Bahnwärter mit nichts weiter als ihrem roten Stab vor dem herannahenden Zug.

Die Fahrgäste, auf dem Weg von einer Metropole zur anderen, blicken hinaus auf Menschen, für die selbst das wenige Kilometer entfernte Lissabon nur ein fremder Moloch ist und die Modernität eine beunruhigende Schimäre am Horizont, dort, wo die Industrieansiedlungen beginnen, wo sich halbverfallene Gehöfte in den glänzenden Fassaden der Fabrikationsstätten europäischer Konzerne spiegeln. Symbol des Wirtschaftsbooms, der Portugal in den letzten Jahren zur vollen europäischen Integration geführt hat.

Dann erreicht der Zug das Knäuel aus Zu- und Abfahrten der Brücke. Betonarme, die Menschen in die Stadt schleudern, die auf der anderen Seite des Mar de Palha den Schlafstädten entrissen wurden. Der Zug fährt unter dem Gewirr hindurch. Dann taucht das Herzstück des neuen Lissabon auf, die Expo. 340 Hektar, bebaut mit modernster Architektur, bis vor kurzem noch kontaminiertes Niemandsland voller verrottender Industrieanlagen. Denkmal einer Seemacht, die erst in den siebziger Jahren ihre letzten Kolonien verlor. Jetzt hat sich die Stadt das Gelände zurückerobert. Von hier sollen künftig Impulse für ein neues, dynamischeres Lissabon ausgehen.

Nicht nur das Motto der Weltausstellung – „Die Ozeane, Erbe für die Zukunft“ –, hier ist alles eine Hommage an die Meere. Entlang zweier frisch angelegter Hafenbecken stehen Gebäude, deren Dächer mit langen Eisenstreben an Masten verspannt sind. Die Röhrengänge des Internationalen Pavillons hängen an Stahlgestellen, als handle es sich um die Rahe eines Segelschiffes. Der Pavillon der Utopie, Raum für Multimedia und Theater, erinnert an ein Boot, kieloben am Strand. Der Zukunftspavillon mit seiner sanft gewellten Außenverkleidung scheint auf eine Brise zu warten, um über den Tejo davonzutreiben. Der Aussichtsturm Vasco da Gama gleicht einem Fockmast mit geblähtem Vorsegel.

Die dem Blätterdach einer Palm-Oase nachempfundene Überdachung der Estacão do Oriente, des neuen Ostbahnhofs, empfängt den Reisenden so freundlich, als wolle sie ihn einladen, in der Stadt zu verweilen und bis Ende September das Expo- Spektakel zu erleben, das 165 Nationen nutzen werden, ihre Errungenschaften zu preisen und ihre Mängel unter die roten Teppiche zu kehren.

Nach der Expo sollen in den Gebäuden Museen, Theater und ein Multimediazentrum ihre Heimat finden. Neue Wohnviertel sollen Zehntausende in den Osten Lissabons locken. Bahn, U-Bahn, Busse und Fähren auf die andere Seite des Tejos. Die Estacão do Oriente mit integriertem Einkaufszentrum wird dann zum Knotenpunkt dieser Stadt neben der Stadt. Wer trotz architektonischer Wunder noch immer das alte Lissabon sucht, den bringt der Zug zur Estacão Santa Apolónia im Zentrum.

Der altehrwürdige Kopfbahnhof ist schon lange zu klein für die ständig steigende Zahl von Reisenden, die vor dem Bahnhof in einer langen Schlange vor dem leeren Taxistand warten. Doch längst eilen die Blicke über den Vorplatz, hin zu einem Gewirr von Häusern und Gassen. Notdürftig mit Asphalt geflicktes Kopfsteinpflaster, von der Meeresluft angegriffene Fassaden in Pastelltönen von Zartrosa über Zartgelb bis hin zu undefinierbarem Beige, volle Wäscheleinen vor allen Fenstern, gleißendes Sonnenlicht. „Lissabon die Weiße“ wird sie immer wieder genannt. „Die Bunte“ hätte besser zu dem gepaßt, was sich vor den Augen des Ankömmlings ausbreitet. Ohne noch lange zu überlegen, schlendert er los, die Reisetasche scheint plötzlich nichts mehr zu wiegen.

Die Straßennamen verraten, was in den Hafenbecken links hinter den Häuserblocks einst angedockt wurde: Tabak, Zwiebeln und Weizen. Über allem liegt der salzige Geruch des Tejo, der sich hier bereits mit den Gewässern des Atlantiks vermischt und sich mit dessen Gezeiten hebt und senkt. Rechts winden sich Gäßchen und Treppen den Berg hinauf.

Manche enden schon nach wenigen Metern in einem Innenhof, von dem hölzerne Eingangstüren zu gleich mehreren Häusern abgehen. Kanarienvögel zwitschern in ihren Käfigen vor den Fenstern. Irgendwo lärmen Kinder. Die Rollen einer Wäscheleine quietschen. Neue Treppen führen immer weiter bergan, durch dunkle, tiefe Schluchten zwischen halbzerfallenen Fassaden, in die nur selten die Sonne scheint. Hauseingänge beherbergen Holzverschläge mit Fensterläden. Nachts werden sie zugeklappt und versperren so den Blick auf die Uhren, den Schmuck oder die Schuhe, die tagsüber dort verkauft oder repariert werden. Der Duft nach frisch Gebackenem weist den Weg in gekachelte Bäckereien, wo alte Marmortheken von weißen Waagen gekrönt werden. In einer gemütlichen Cafeteria gibt es dicke, getoastete Brotkanten, auf denen die Butter zartgelb zerläuft, dazu Milchkaffee.

Der Besucher läßt die Alfama, den arabischen und jüdischen Stadtteil des mittelalterlichen Lissabon, hinter sich und tritt hinaus auf lange, geradlinige Straßen zwischen quadratische Blocks aus uniformen Gebäuden. Eine Katastrophe erzwang diese Stadtreform, die sich als Glücksfall für Lissabon erweisen sollte. Ein Erdbeben machte an Allerheiligen 1755 hier im Barrio Baixa – der Unterstadt – alles nieder. Der Wiederaufbau wurde zur Keimzelle des modernen Lissabon mit seinen großen Boulevards, die hier Avenidas heißen.

Vom Fluß herauf zieht sich das kommerzielle Zentrum Lissabons über die Praça do Rossio hin zur Avenida da Libertade und weiter zum Park Eduardo VII. mit seinem herrlichen Blick über Stadt und Fluß. Das Prunkstück bildet die Praça do Comércio: ein weites Viereck, nach drei Seiten von Gebäuden mit Arkaden eingesäumt, die Schatten spenden und zum Spazieren laden. Die vierte Seite bildet der Fluß, die Schlagader des Handels – der Quelle des Reichtums.

Spätestens hier muß sich der Reisende entscheiden, welchem Lissabon er sich widmen will: dem Lissabon, das die Metro erschließt, der Stadt des modernen schnellen Lebens auf den großen Boulevards, die hinauf in den Norden führen; oder dem Lissabon der Eléctricos, der kleinen Straßenbahnen, die sich selbst dort noch steile Gassen hochkämpfen, wo die Dieselbusse längst ins Schnaufen kommen und zu versagen drohen. Meist fällt die Entscheidung für die Metro und das moderne Lissabon. Die großen Hotels liegen an den Avenidas.

Hier, weit entfernt vom Fluß, haben sich auch diejenigen niedergelassen, die heute den Ton angeben. Man trifft auf Repräsentanzen großer internationaler Firmen, Versicherungen, Banken. Auf der Avenida da República erinnern nur noch wenige, zerfallene Villen an das vergangene, maritime Lissabon. Fenster und Türen sind zugemauert. Die Besitzer warten, bis die Zeit ihnen die Arbeit abnimmt, die Gebäude nicht mehr zu retten sind und so zum Abriß freigegeben werden. An der Praça Duque de Saldhana spiegeln sich die letzten kachelverzierten Fassaden in einem überdimensionalen Bau aus rosa Marmor und Spiegelglas. Edificio Monumental – Monumentales Gebäude – steht über dem Eingang, als wäre es nicht auch so schon klar. Aus dem U-Bahn-Schacht huschen Menschen mit Aktenkoffern. Teure Kleidung internationaler Designer und Handys tragen dazu bei, die eigene Wichtigkeit in Szene zu setzen. Dazwischen immer wieder Menschen, die nicht so recht hierher passen wollen: Neben dem U-Bahn-Ausgang verkauft eine schwarzgekleidete Alte, mit Kopftuch und Hausschlappen, T-Shirts direkt aus einem Plastiksack. Ein paar Meter weiter bietet ein Mann im blauen Arbeitsanzug Kleiderbügel an. Aus der U-Bahn dringt der Klang eines Akkordeons herauf. Der blinde Spieler besingt dazu bilderreich verflossene Lieben und Landschaften, die er nie gesehen hat. Menschen, an denen der Boom vorbeigegangen ist, als Ruhepol im hektischen Treiben.

Nur wenn die Sonne den höchsten Punkt ihrer Reise vom Oberlauf des Tejo hinaus auf den Atlantik erreicht, versinkt ganz Lissabon in der Gemächlichkeit, die sich die Stadt sonst nur in den alten Gassen auf den Hügeln bewahrt hat. Der Verkehr kommt schlagartig zum Erliegen. Die Metropole scheint einmal tief durchzuatmen, um dann Mittagsruhe zu halten. Bauarbeiter, meist Schwarzafrikaner aus den einstigen Kolonien, Cabo Verde, Guinea, Angola oder Mosambik, dösen in schattigen Eingängen vor sich hin. Vergessen für zwei Stunden die Hektik, vergessen den Frust ihrer Chefs darüber, daß ihnen die Zeit davongelaufen ist, um die Stadt rechtzeitig zur Eröffnung des großen Festes in neuem Glanz und ohne Baugruben erstrahlen zu lassen. Die kleinen Restaurants füllen sich. Niemand besteht auf einem eigenen Tisch. Diese sind zu langen Reihen zusammengeschoben worden. Angestellte und Arbeiter setzen sich wie vom Kellner angewiesen und genießen das gastronomische Wunder Portugals: den Bacalhau, ein Stück Stockfisch, das unter den Händen des Kochs die einzigartige Wandlung vom ledrigen, salzigen und übelriechenden Fetzen zum weichen, weißen und köstlichen Gaumengenuß erlebt hat. In winzigen Parks wie dem gegenüber dem Lyceu de Camões, einer der ältesten und prestigereichsten Oberschulen der Stadt, sammeln sich die Schüler und Schülerinnen auf den Bänken im Schatten der Bäume. Großmütter füttern ihrem Kindergartenenkel das mitgebrachte Mittagsmahl. Zum Nachtisch gibt es eine Kugel Eis von einem der roten Zündappdreiräder, über deren Lenker eine Tiefkühlbox installiert wurde. Junge Paare genießen die erste romantische Liebe. Vor den Restaurants in den Straßen rund um die Metrostation Areeiro qualmen Grills auf den Gehsteigen. Die Bewohner dieser Blocks, deren autoritärer, geradliniger Baustil verrät, daß sie auf den Reißbrettern der Diktatur entworfen wurden, kamen einst aus den Dörfern des armen Südens. Ihre Lebensgewohnheiten haben sie auch in der Metropole bewahrt.

Als hätte irgendwer ein Signal gegeben, das nur für Einheimische zu entschlüsseln ist, fängt die Stadt erneut an zu pulsen. Die Ruhe zieht sich in die Altstadt zurück, in die Reservate entlang der Straßenbahn, denen die Metro und damit das hektische Leben der Neustadt immer näher kommt. Allein in diesem Jahr wurde, anläßlich der Expo, der unterirdische Schienenstrang über zwölf neue Stationen durch die Hügel getrieben. Unsichtbar an der Oberfläche. Und doch verändert sich dort, wo er durchkommt und sich seine Schächte öffnen, allmählich der Rhythmus des Lebens. In einigen Gebieten vermischen sich das alte und das neue Lissabon bereits. So an der Praça Martim Moniz, einem Platz am Rande des Barrio Baixa. Die Linie 12 fährt ohne Halt an zwei Einkaufszentren und einem der neuen Hotels vorbei, nimmt mit metallischem Kreischen die Kurve und verschwindet in einer der engen Gassen hinauf in die Altstadt.

Verfallen und verlassen, war die Praça Martim Moniz für die Städteplaner nichts weiter als ein Herd der Kriminalität und Drogen. Sie beschlossen den Platz einer Radikalkur zu unterziehen: Abriß und Neubauten. Das Ergebnis ist eine postmoderne Narbe im alten Gewebe. Eine Fläche aus beigegelblichem Marmor, so groß wie ein Fußballfeld. Die einzigen Verzierungen: Wasserspiele aus Edelstahl. Sauber und geordnet, schreckt der Platz selbst die fliegenden Händler, die ihm mit ihren improvisierten Ständen bis vor kurzem noch Leben gaben. Die für sie vorgesehenen Kioske aus Edelstahl und Glas verwaisen. Die wenigen Passanten, die die Praça Martim Moniz überqueren, verschwinden hastig im U-Bahn-Schacht.

Die U-Bahn-Linien tragen statt Nummern Symbole: einen Kompaß, ein Segelschiff, eine Möwe. Und mitten in der weiträumigen Betonhalle des U-Bahnhofs Cais do Sodré ist eine blaugekachelte, halbrunde Nische eingelassen, über deren Wände ständig ein feiner Wasserschleier rieselt. Auch unterirdisch die Sehnsucht nach einstiger Größe – wie sie oberirdisch seit jeher gepflegt wird. Wo immer möglich, wurden die Plätze der verwinkelten alten Stadtteile und der modernen Avenidas so angelegt, daß von ihnen aus der Tejo, der Zugang der Stadt zum Meer, zu sehen ist. Und wo das nicht gelang, erinnern zumindest die Straßenlaternen an die Quelle einstigen Reichtums. Sie krönt das vergoldete Abbild einer Caravela, des dickbauchigen Segelschiffes, mit dem die Ozeane erobert wurden. Omnipräsenz des Atlantiks, obwohl er von keinem Punkt der Stadt aus zu sehen ist. Nicht einmal vom höchsten Hügel Lissabons über der Alfama, wo das mittelalterliche Castelo de São Jorge über den Tejo wacht.

Wer tatsächlich den Ozean sehen will, der muß hinaus nach Belém, zum Denkmal der Entdeckungen. Die Aussichtsplattform gibt dem Reisenden den Blick frei auf den Atlantik. Zwischen den steinernen Nationalhelden, dem Eroberer Enrique, dem Poeten Camões und dem Maler Gonçalves blickt der Besucher hinaus in Richtung Atlantik und nimmt Teil an der einstigen Größe des Gastlandes. Der Startschuß für die Westerweiterung der Stadt in Richtung Belém fiel 1940 mit einer anderen großen Ausstellung, der der portugiesischsprachigen Welt. Es waren die Jahre der Salazar-Diktatur, an andere Teilnehmer war nicht zu denken. Auch damals gipfelte die Hommage an das portugiesische Imperium in einer krönenden Brücke über den Tejo. Erst wurde sie auf den Namen des Diktators getauft. Und nach der Revolution 1974 auf das Datum des Umsturzes, den 25. April. Den Tag, an dem auch die letzten Kolonien in die Unabhängigkeit entlassen wurden.

„Menschen, die das Meer brachte“ heißt es auf den Plakaten, die dieser Tage überall in der Stadt zu sehen sind. Geworben wird damit für eine Reihe von Autoren aus Lateinamerika und ihre Lesungen anläßlich der Expo. Nicht etwa, wie der unbedarfte Beobachter zuerst vermutet, diejenigen, die einst kolonialisiert wurden, und jetzt als Immigranten die Viertel wie 6 do Maio, Chelas oder Preira dos Ungaros füllen. Das verlorene Imperium erobert die Metropolis. Überall haben die Menschen aus Guinea, Capo Verde, Mosambik und Angola die Stadt geprägt. Afro-Friseure, Restaurants, multikultureller Karneval, Hunderte von kleinen Geschäften und selbst ein ganzes Einkaufszentrum, das La Mouraria an der Metro Martim Moniz, machen Lissabon zu einer der schwärzesten Städte Europas. Und im Barrio Alto, der Oberstadt, hat ihre Musik, der Rap und der HipHop, längst dem Fado den Rang abgelaufen.

Wer in sein will, verkehrt ab Mitternacht im Café Targus, egal welcher Subkultur er angehört. Einmal die Woche trifft sich hier die Intelligenz der Stadt und debattiert über Illusion und Aufbruch im Lissabon der Expo. Hier reden sie von der movida Lissabons, ein Begriff, mit dem das aufregende Nachtleben Madrids in den achtziger Jahren bezeichnet wurde. Viele hoffen inständig, die neue Kreativität möge auch nach dem großen Fest dort im Osten der Stadt weitergedeihen. Vieles deutet darauf hin. Ob offizielles oder alternatives Theater, Ausstellungen oder Konzerte, noch nie gab es solche Besucherströme. Von einem multikulturellen, kosmopolitischen Metropolendorf träumen die jungen Kulturschaffenden. Irgendwo zwischen Europa und den Weiten des Atlantiks, ohne das ureigene Ambiente des alten Lissabon dabei zu zerstören.

Selbst unten, im von der Krise der siebziger Jahre gezeichneten Hafengebiet rund um den Cais do Sodré, verändert sich die Stadt. Dort, wo seit jeher die Fähren hinüber zur Werft auf die Südseite des Tejos ablegen, die Züge raus ans Meer fahren und von wo aus die Eléctricos die Altstadt erschließen, verkehrt seit neuestem auch die Metro. Stillgelegte Werkstätten nehmen erste Diskotheken auf. Im alteingesessenen Milieu, in den Hafenspelunken mit Billigwein und schnellen Versprechungen für ein paar tausend Escudos, gleich nebenan, weiß keiner so recht, was er von diesen Nachbarn halten soll. Industria heißt der bekannteste Tempel neuester Musik. Internationaler HipHop und Geraptes der schwarzen Jugend Portugals bringen frischen Rhythmus ins Leben unten am Fluß.

Drei urbane und kulturelle Schwerpunkte soll das neue Lissabon nach der Expo haben. Den westlichen Vorort Belém mit dem Kommunalen Kulturzentrum, dort, wo 1940 die Ausstellung der portugiesischsprachigen Welt stattfand, den Osten mit seinen Museen und Ausstellungsräumen, die in den Expo-Pavillons angesiedelt werden sollen, und dazwischen die eigentliche Stadt mit ihrem historischen Zentrum. Die Pläne des jungen sozialistischen Bürgermeisters João Soares, Sohn des ehemaligen Präsidenten der Republik, Mario Soares, stoßen allgemein auf Zustimmung. Auch wenn viele ihre Befürchtungen nicht verheimlichen, das Projekt könne, wie so viele vorher auch, auf halbem Wege steckenbleiben. Dann nämlich liefe die Altstadt Gefahr, von der prosperienden Peripherie an den Rand gedrängt zu werden.

Auf dem Cais do Sodré ist eine große Uhr seit ewigen Zeiten stummer Zeuge des Auf und Abs der Stadt. „Hora legal“ – gesetzliche Zeit – steht in großen schwarzen Lettern über dem in einer Mauer eingelassenen emaillierten Rund. Tag für Tag, Jahr für Jahr dienten die Zeiger allen anderen Uhren im Lande als Vorbild. Eines Tages ging ein Ruck durch das Räderwerk. Seither steht die Uhr still: Als wüßte sie nicht, welchem der verschiedenen Rhythmen im neuen Lissabon sie die Stunde schlagen soll.

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