: Tödliche Stiche nach Rempelei
■ Prozeßbeginn unter Ausschluß der Öffentlichkeit im Fall des 18jährigen Serkan E., der offenbar aus nichtigem Anlaß einen Wachmann auf der Oranienstraße erstochen hat
Der Prozeß könnte eine Momentaufnahme der Innenstadtbezirke liefern. Er würde dann von wachsenden Spannungen, gesunkenen Aggressionsschwellen und alltäglicher Aufrüstung berichten. Doch der Prozeß findet hinter verschlossenen Gerichtstüren statt. Dort, im Saal 817 des Landgerichts, hat der 18jährige Serkan E. gestern gestanden, an einem Februarnachmittag auf der Kreuzberger Oranienstraße den 34jährigen Wachmann Thomas K. erstochen zu haben.
Täter und Opfer waren sich rein zufällig beim Verlassen eines Busses begegnet und auf dem engen Bürgersteig im Vorübergehen aneinandergerempelt. Dieser zufällige Zusammenstoß reichte offenbar als Anlaß aus, daß Serkan E. mit seinem Klappmesser mehrmals zustach. Für den Wachmann, der nach Feierabend auf dem Weg zu seiner Mutter war, kam jede ärztliche Hilfe zu spät.
Er habe sich durch den körperlich überlegenen 34jährigen angegriffen und vor seinen Freunden in seinem Ehrgefühl verletzt gefühlt, hatte Serkan E. später erklärt, nachdem er sich kurz nach der Tat in Begleitung eines Sozialarbeiters der Polizei gestellt hatte. Seit gestern muß er sich vor Gericht verantworten. Die Anklage lautet auf Mord, Serkan E. selbst bestreitet eine Tötungsabsicht.
Was tatsächlich in dem jugendlichen Täter vorgegangen ist, wie genau sich die tödliche Begegnung abgespielt hat, welche Rolle es spielte, daß sein Opfer Deutscher war und eine Uniform trug – all das wurde gestern wegen des jugendlichen Alters Serkan E.s nur unter Ausschluß der Öffentlichkeit erörtert. Nur seine Eltern, die türkischer Herkunft und wie ihr Sohn inzwischen eingebürgert sind, durften der Verhandlung folgen. Die Eltern stehen der Tat ihres Sohnes fassungslos gegenüber. Sie haben inzwischen versucht, Kontakt mit der Mutter des getöteten Thomas K. aufzunehmen.
Der eher schmächtige Serkan E. hat mit seinen Stichen einen Wachmann getroffen, der das Gegenteil eines strammen Hilfssheriffs war. Thomas K. habe seinen Beruf gehaßt, aber nach mehreren Gelegenheitsjobs sei die Arbeit als Wachschützer die einzige Anstellung gewesen, die er habe finden können, berichten Freunde: „Der Thomas war ein zutiefst moralischer Mensch.“ Die Regale seiner Kreuzberger Wohnung waren mit Büchern über die schwarze amerikanische Bürgerrechtsbewegung bestückt. In den 80er Jahren hatte Thomas K. Solidaritätslieferungen für Nicaragua organisiert und als Türsteher in der Szenedisko „blockschock“ souverän Hunderte von teilweise auch aggressiven Jugendlichen an sich vorbeigeschleust. Daß Thomas K. an jenem Februarnachmittag auf der Oranienstraße Serkan E. mit ausländerfeindlichen Bemerkungen provoziert haben könnte, erscheint seinen Freunden deshalb unvorstellbar.
Einigen von Serkan E.s Altersgenossen dient der Vorwurf der „ausländerfeindlichen Anmache“ nun als hilflose Rechtfertigung für die Tat: „Wer angegriffen wird, muß sich wehren.“ Das bekamen auch die Journalisten gestern zu spüren. Sie sahen sich vor dem Gerichtssaal gereizten Jugendlichen gegenüber, die offenbar schon in der Berichterstattung über den Prozeß einen Akt von Vorverurteilung und Ausländerfeindlichkeit sahen. Vera Gaserow
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