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Mörder im Dienste des großen Ganzen

Der SS-Führer Alfred Six verkörpert die Symbiose des Intellektuellen Technokraten mit der faschistischen Macht  ■ Von Michael Wild

Man kann das Buch als Skandalgeschichte eines Mannes lesen, der mit brennendem Ehrgeiz im Mordzentrum des NS-Regimes ebenso wie in den Wirtschaftsetagen der Bundesrepublik Karriere machte: Franz Alfred Six, 1909 in Mannheim geboren, der Vater Möbelhändler, Polsterer und Dekorateur, engagierte sich früh für die Nationalsozialisten, trat 1930 der NSDAP bei. In Heidelberg studierte Franz Six das neue Fach Zeitungswissenschaft, gab aber früh zu erkennen, daß ihn die Universität nicht als Hort der Wissenschaft, sondern vornehmlich als Terrain einer honorablen Karriere interessierte. Er promovierte 1934 mit einer Dissertation über die politische Propaganda des Nationalsozialismus, die trotz ihrer offenkundigen Dürftigkeit vom Gutachter Arnold Bergsträsser, der in der Bundesrepublik zu einem der führenden Politikwissenschaftler avancierte, als „wertvoller Beitrag zur Analyse des Gesamtproblems“ bewertet wurde, der „durch die Verbindung äußerster Realistik und analytischer Kühle“ besteche. 1935 wurde Six Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes (SD) der SS, erlangte im SD- Hauptamt in Berlin eine führende Position und betrieb zugleich seine akademische Karriere weiter.

Im Jahr 1940 sehen wir ihn als Ordinarius an der Berliner Universität, Dekan einer neuen Fakultät Auslandswissenschaft und Präsidenten eines eigenen „Deutschen Auslandswissenschaftlichen Instituts“ sowie als einen von sieben Amtschefs des Reichssicherheitshauptamtes unter Heydrich. Mit seinem „Vorkommando Moskau“ gehörte Six zu den Mordeinheiten der SS beim Angriff auf die Sowjetunion 1941. Anschließend gelang ihm, obwohl sein Stern im RSHA sank, im Auswärtigen Amt als Leiter der Kulturpolitischen Abteilung eine neue Karriere.

Nach der Kapitulation untergetaucht, aufgespürt und vor Gericht gestellt, wurde Six 1948 wegen der Mordtaten als Einsatzkommandoführer vom amerikanischen Militärtribunal im Einsatzgruppenprozeß zu 20 Jahren Haft verurteilt. Vier Jahre später bereits kam er frei, wurde kurzzeitig Geschäftsführer des Leske Verlags, verfügte über hervorragende Kontakte zum Spiegel, arbeitete als Werbeleiter für die Porsche-Dieselmotoren- Werke in Friedrichshafen am Bodensee und war schließlich erfolgreich als Industrie- und Werbeberater tätig. 1975 starb Six mit 65 Jahren in Bozen.

Sicher ist diese Biographie skandalös. Aber das Echo, das Lutz Hachmeisters Buch bislang in den Rezensionen gefunden hat, erweckt den Eindruck, als verdecke der Skandal einer kaum unterbrochenen Karriere die Fragen, die die Person Six aufwirft. Das analytische Problem einer Biographie wie der von Franz Alfred Six liegt darin, zu erklären, wie junge, strebsame Akademiker, denen die Berufung zum Massenmörder nicht in die Wiege gelegt worden ist, die Vernichtung von Millionen nicht nur dachten, sondern auch tatkräftig zu verwirklichen halfen.

Im Gestus der öffentlichen Entrüstung über die Karriere eines Franz Alfred Six steckt dagegen nach wie vor der naive Glaube, daß Akademiker eine gegenüber Ideologien gleichsam immune Spezies seien, daß Bildung vor Verbrechen schütze. Ebenso wirft nicht so sehr die unbehelligte Existenz so vieler NS-Täter in der Bundesrepublik Fragen auf als vielmehr die erstaunliche Entwicklung, wie diese Republik gleichsam gegen ihre eigenen Staatsbürger demokratisch werden konnte. Ulrich Herbert hat in seinem Buch über den Heydrich-Stellvertreter Werner Best, der als Amtschef im RSHA Kollege von Franz Alfred Six war, den Typus eines SS-Intellektuellen beschrieben, der sehr früh eine festgefügte antisemitische Weltanschauung besaß, deren radikales Potential sich im NS-Regime schrankenlos entfalten konnte.

Der „Generation der Sachlichkeit“, die mit Rationalität und Kälte den Mord an den europäischen Juden plante und organisierte, gehörte auch Six an. Doch anders als Best brillierte er weniger mit weltanschaulichen Konzepten als durch Intelligenz, Ehrgeiz, Machtbeflissenheit und Skrupellosigkeit, wobei Antisemitismus und völkischer Rassismus die selbstverständlichen Grundlagen seines Denkens bildeten. In Six erscheint der wissenschaftliche Politikberater in seiner jede Moral verachtenden Gestalt, als intellektueller Techniker der Macht, der sich selbst als Herscher dünkt und in Politikern nur die Handlungsgehilfen seiner Konzepte sieht.

„Wie viele meiner Generation“, sagte Six nach dem Krieg im Nürnberger Kriegsverbrecherprozeß aus, „stand ich vor der Entscheidung, entweder Kommunist oder Nationalsozialist zu werden. Ich bin Nationalsozialist geworden, weniger aus Gründen des Programms als aus der Erkenntis der potentialen Kraft des Nationalsozialismus, der mir versprach, daß er die soziale Frage nicht von einer Klasse, sondern vom gesamten Volk her lösen würde.“ Es gehört zu den erfolgreichen Selbststilisierungen der intellektuellen NS- Elite in der Nachkriegszeit, daß nur das große Ganze sie als Aufgabe fasziniert habe, daß Antisemitismus und Rassismus des Regimes sie nicht interessiert, ja eher sogar abstoßend auf sie gewirkt hätten. Six' Aussage, liest man sie ein wenig gegen den apologetischen Strich, läßt zumindest ahnen, wie sehr der Wunsch, sich an den „Machtpol“ (Theweleit) anzuschließen, alle Bedenken hintangestellt hat. Die Universität, selbst das von ihm mit Verve propagierte Fach Zeitungswissenschaft stellte für Six keine inhaltliche Herausforderung dar. Seine eigenen akademischen Arbeiten sind mehr als dürftig. Weit mehr interessierten Six die institutionellen Möglichkeiten der Universität. Doch erst die Verbindung mit dem SD verlieh seiner Laufbahn die entscheidende Dynamik.

Der SD unter Heydrich war mehr als nur eine Organisation zur Sammlung von Informationen über die politischen Gegner. In den Konzepten seiner Führung sollte der SD zu einer Institution werden, die über alle Lebensbereiche Wissen sammelt, auswertet und in völkisch-rassistischer Perspektive zu politischen Handlungsorientierungen formt. Nicht als Spitzelorganisation, sondern als politische Elite, die sowohl die schlagkräftigsten Konzepte liefert als auch selbst imstande ist, diese in die Wirklichkeit umzusetzen. Theorie und Politik, Konzept und Praxis wurden im SD immer miteinander verknüpft. Deswegen haben sich seine Angehörigen keineswegs darauf beschränkt, am Schreibtisch mörderische Pläne zu entwerfen. Vielmehr waren sie als Einsatzkommandoführer überall in den besetzten Gebieten anzutreffen. Die wohl einmalige Konstruktion des Reichtssicherheitshauptamtes, in dem das Amt VII mit der Bezeichnung „Weltanschauliche Gegnerforschung“ unter Six zumindest formal denselben Rang besaß wie das Reichskriminalpolizeiamt unter Nebe oder das Geheime Staatspolizeiamt unter Müller, kennzeichnet die besondere nationalsozialistische Perspektive einer „völkischen Polizei“. Hier ging es um mehr als die Verfolgung des politischen Gegners, hier wurde eine Institution entworfen, die umfassend und präventiv, wissenschaftlich wie skrupellos Europa und die Welt rassistisch neu ordnen sollte.

Six hat an entscheidender Stelle in den Jahren 1936 bis 1940 daran mitgewirkt, daß dieses SD-Hauptamt auf „wissenschaftlicher“ Basis „Gegnerforschung“ betrieb, Karteien anlegte, Expertisen verfaßte, Bibliotheken und Archive beschlagnahmte und auswertete. Ob in Österreich, im Sudetenland, in Polen, Belgien, Frankreich oder in den Niederlanden, überall waren SD-Kommandos unterwegs, um Materialien über Juden, Freimaurer und Jesuiten zu finden. Der monströse Plan eines umfassenden Archivs zur weltanschaulichen „Gegnerforschung“ scheiterte nicht nur an dem nicht mehr zu bewältigenden Raubgut von Büchern und Dokumenten, es wollte auch niemand mehr in einem Krieg, der alle Ressourcen beanspruchte, ein solches, jede Dimension sprengendes Projekt unterstützen. Das ehrgeizig geplante AmtVII unter Six verkümmerte zur Registratur des RSHA. Rechtzeitig fand Six den Absprung in seine dritte Karriere im Auswärtigen Amt.

Das Problem, das der Band von Lutz Hachmeister wie die Analysen von Götz Aly und Susanne Heim über die „Vordenker der Vernichtung“ oder das Buch von Ulrich Herbert über Werner Best stellen, ist die Verbindung von Intellektuellen und Macht, die Faszination, die davon ausgeht, nicht nur andere, schönere Welten zu entwerfen, sondern sie selbst auch schreckliche Wirklichkeit werden zu lassen.

Die Bereitwilligkeit, mit der sich Intellektuelle, Akademiker, Professoren scharenweise an den monströsesten Massenverbrechen beteiligten, ist kein Randproblem, wie diese Studien zeigen. Die weltanschaulich unerbittliche Energie, die solche intellektuellen Eliten antrieb, radikalisierte die Praxis ins Mörderische, wenn diese Intellektuellen sich mit Machtinstitutionen verbinden konnten. Erst mit der Möglichkeit, mittels des SD- und Polizeiapparates nicht nur Konzepte zu entwickeln, sondern sie auch zu realisieren, wurden die zahllosen Planungspapiere tatsächliche Vernichtungspraxis.

So ausschließlich funktional, sachlich, technisch, wie uns diese intellektuelle Elite ihre Beteiligung am Nationalsozialismus nach dem Krieg weiszumachen suchte, war deren Täterschaft nicht. Das Projekt eines „wissenschaftlichen“ Nationalsozialismus hat in seiner kalten Vernichtungspolitik mehr Tote gefordert als die Pogrome der Radau-Antisemiten. In diesem Sinn bildet Franz Alfred Six vielleicht recht genau jenen akdademischen Typus ab, der Politik als Technik begreift und der, wenn er die Gelegenheit erhält, Macht auszuüben und seine Pläne zu verwirklichen, eine mörderische Spur von Toten hinterläßt.

Lutz Hachmeister: „Der Gegnerforscher. Die Karriere des SS- Führers Franz Alfred Six“. C.H. Beck Verlag, München 1998, 416 Seiten, 58 DM

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