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Spaßguerilla gegen Autowahn

An jedem letzten Freitag im Monat sorgen RadfahrerInnen in Berlin für Staus: Als „Critical Mass“ auf den Straßen der Innenstadt und gegen eine autofixierte Verkehrspolitik  ■ Von Bernhard Pötter

„Was ist denn hier los?“ fragt die Touristin, die mit einem Eis in der Hand um das Brandenburger Tor herumgeht. Vor ihr biegen 400 RadfahrerInnen vom Bürgersteig unter heftigem Geklingel in den Berufsverkehr ein. „Das ist ein Stau“, sagt Peter Maier*, der sich im Busineß-Jackett aufs Fahrrad schwingt. „Wir produzieren einen Fahrradstau.“

Das geht schnell. Schon hinter der ersten Ampel nimmt das Feld der RadlerInnen die dreispurige Breite des Prachtboulevards Unter den Linden ein. Langsam rollen die Räder an den Straßencafés vorbei. Hinter ihnen drängeln sich die Autos. Die FahrerInnen vermuten eine der täglichen Demonstrationen in der Hauptstadt. Doch weit gefehlt: Es ist Freitag nachmittag, der letzte im Monat, und bei dieser Versammlung handelt es sich nicht um eine Demonstration, sondern – laut Aufruf im Internet – um einen „organisierten Zufall: der monatliche Fahrradstau gegen den täglichen Autostau“. Die Aktion nennt sich nach ihrem US-Vorbild „Critical Mass“ und bringt die kritische Masse von RadfahrerInnen auf die Straße, die den Autoverkehr kurzfristig lahmlegen kann, um anschaulich gegen ihn zu demonstrieren – oder eben nicht zu demonstrieren. Denn offiziell wird einfach radgefahren.

Daß hier niemand zuständig ist, merkt auch die Polizei. Fünf Minuten nach dem Start heulen die ersten Sirenen. Motorradpolizisten schirmen die Radtour ab, Mannschaftswagen machen den Weg frei oder versuchen, die radelnde Karawane in vernünftige Bahnen zu lenken. Ab und zu schwenkt der Kopf der Fahrradschlange ohne Vorwarnung in eine Seitenstraße ab. Die Polizisten beugen sich entnervt über einen Stadtplan, um über Funk die Routenänderung durchzugeben. Eine Demoroute gibt es ebensowenig wie einen Veranstalter.

„Wir halten uns an die Verkehrsregeln“, heißt es in den Aufrufen der „Critical Mass“, doch das Verhalten vor roten Ampeln ist nicht klar: Die meisten halten an, einige fahren durch wie bei einer Demo, die Polizei bittet über Lautsprecher mal die „lieben Radfahrer“, auf das Rotlicht zu achten, dann wieder hält sie die Autos an. Die RadlerInnen erreichen, was sie wollen: Spaß für sich selbst, Verwirrung bei der Polizei, Aufmerksamkeit durch die ZuschauerInnen – und Ärger bei den AutofahrerInnen.

Entstanden ist „Critical Mass“ aus Ärger über eine Verkehrspolitik in den Städten, die RadlerInnen immer mehr an den Bordstein drängt. 1992 versammelten sich in San Francisco zum ersten Mal RadfahrerInnen zur Spontan-Demo, inzwischen wird, laut Internet- Seite, auch in Städten wie Amsterdam, Kopenhagen, Sydney, Boston, Washington D.C., Seattle oder London protestiert. Seit einem knappen Jahr radeln die StreiterInnen für Pedal-Power an jedem letzten Freitag im Monat auch durch den Berliner Berufsverkehr, ähnliche Aktionen gebe es in Nürnberg und Marburg, erzählen sie.

„Critical Mass ist keine Demo“, heißt es im Internet. Dabei gäbe es viel zu kritisieren: Laut Statistischem Bundesamt kommen immer mehr RadfahrerInnen unter die Räder: 1997 stieg die Zahl der Unfälle bundesweit um zehn Prozent, 679 RadlerInnen wurden getötet. Auch Berlin plant weiter am Fahrrad vorbei: Trotz günstigen, flachen Geländes stagniert der Radverkehr bei einem Anteil von sechs Prozent (Bundesdurchschnitt zehn Prozent), verrotten die Radwege und unterstützt Verkehrssenator Jürgen Klemann (CDU) die angeblich gewollte Verdoppelung des Radverkehrs hauptsächlich durch warme Worte. Dabei hat jeder zweite Haushalt in der Innenstadt kein Auto. Gute Voraussetzungen also, aber gerade in Berlin- Mitte ist Radeln im ständigen Kampf mit den Autos ein lebensgefährlicher Hochleistungssport: Alle drei Wochen stirbt ein/e RadfahrerIn, 550 wurden im vergangenen Jahr schwer verletzt.

„Das hier ist ein Happening“, sagt Karl Schröder, der zum dritten Mal mitfährt und vor den Hochhäusern der Leipziger Straße in Berlin-Mitte sanfte Schlangenlinien fährt. „Wir zeigen, daß wir da sind, und irgendwie ist das ja auch politisch.“ Michael Müller im Telekom-Trikot genießt die „Ruhe, wenn der Verkehr stillsteht“, außerdem gehe es gegen die „Ausrichtung der Städte für den Autoverkehr“.

Nach einer halben Stunde hat sich die Polizei der Lage angepaßt. Am Landwehrkanal vor der neuen debis-Zentrale schickt sie zwei Beamte per Rad in den Zug. Sie werden mit Jubel begrüßt, steigen aber schon bald wieder in den Mannschaftswagen ein. Debis, die Tochterfima des Stuttgarter Autokonzerns Daimler-Benz, hat vor wenigen Monaten in einem Rundschreiben zum Berlin-Umzug ihre Angestellten gewarnt, in der Hauptstadt radzufahren: der Verkehr sei zu gefährlich.

Der Radlerpulk rollt jetzt an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche vorbei. PassantInnen kriegen vom Bordstein aus kleine Flugblätter. „Wir müssen den Leuten unsere Ziele erklären“, sagt Anton Vierling. Nein, nein, er ist nicht der Organisator: Er sitzt nur gelegentlich mit etwa zehn Menschen zusammen und plant die planlosen Aktionen. Jemand muß schließlich dafür sorgen, daß die Flugblätter gedruckt werden und die Website bezahlt wird. Und manchmal auch die jungen Wilden zur Ordnung rufen: „Vorhin fuhr jemand auf der Gegenfahrbahn frontal auf einen Mercedes zu, zwang ihn zum Halten und beschimpfte ihn. Ich habe gesagt, daß das nicht der Sinn und Stil von Critical Mass sein kann.“

Freiheitsgefühle, Anarchie und Aggressionen gegen den stets übermächtigen Autoverkehr können unter den unorganisierten RadlerInnen auch mal eine kritische Masse der eigenen Art bilden: „Die Woche vor der Aktion schlafe ich schlecht“, sagt Vierling. „Was weiß ich denn, ob es nicht zu einem Unfall kommt, ob ein Radfahrer, ein Polizist oder ein Autofahrer durchdreht.“

Der Einsatzleiter der Polizei, Bernd Günther, jedenfalls ist heute ganz ruhig. Er sitzt in seinem Opel Astra und bittet die RadfahrerInnen über Megaphon, bei der Kundgebung die Straße für die Busse freizuhalten. „Eine Demonstration ist das hier nicht“, bestätigt er. Was sonst? Der Einsatzleiter zuckt mit den Achseln. „Radfahrer, die am Verkehr teilnehmen.“ Zu zehnt, nebeneinander und ohne Rücksicht auf Ampeln? „Es wurden Verstöße gegen die Straßenverkehrsordnung festgestellt, aber wir haben keine einschreitenden Maßnahmen eingeleitet.“ Warum nicht, wenn doch sonst das Überfahren einer roten Ampel 50 Mark kostet? Günther lächelt: „Es gilt das Opportunitätsprinzip.“ Zu deutsch: Wegen ein paar roter Ampeln riskiert die Polizei keine Konfrontation.

Das war bei den ersten Fahrten noch anders, erzählen die RaddemonstrantInnen. Polizeiwagen hätten anfangs versucht, sie abzudrängen. Bei der Mai-Fahrt hätten die Ordnungshüter mitten auf der Ostberliner Magistrale Schönhauser Allee einen Radfahrer festgenommen, woraufhin der Pulk die Straße zwei Stunden lang blockiert habe, bis der Mann freigelassen worden sei. Kein sehr gelungener Einsatz der verwirrten Staatsmacht.

Die Aktion „Critical Mass“ paßt in die Beobachtung zunehmender „Spaßproteste“, die der Politologe Peter Grottian und die „Projektgruppe Jugendprotest“ von der Freien Universität Berlin in einem Aufsatz nachzeichnen. Für den Wissenschaftler zeigt der Jugendprotest in den späten neunziger Jahren den Charakter eines „politischen Happenings, wo Protest zur Form einer anspruchsvollen Freizeitgestaltung wird“. Es gebe heutzutage „wenig Bereitschaft, für Protestaktionen Sanktionen auf sich zu nehmen“. Man habe eher das Bedürfnis, an einem bestimmten Punkt sein Mißfallen zu äußern, als die Vorstellung früherer Protestgenerationen, man müsse die gesamte Gesellschaft verändern. Folglich fehle es auch am Aufbau stabiler, langfristiger Strukturen. Wolle die „Politik der Spaßproteste“ die Institutionen zu einer Debatte nötigen, so Grottians Resümee, müsse es zu „effektiven, regelverletzenden Spaßaktionen“ kommen, die „den Schmerz für die herrschende Politik erhöhen“. Zumindest für die Autofahrer in der Rush-hour an diesem Freitag nachmittag erhöhen die inzwischen etwa 500 RadfahrerInnen den Schmerz ganz erheblich: Am Ende des Ku'damms blockieren sie den Kreisverkehr, um am Cadillac-Denkmal des Bildhauers Wolf Vostell ihrem Ärger Luft zu machen.

Vor dem in Beton gegossenen US-Schlitten, einer sarkastischen Version des „ruhenden Verkehrs“, entrollen die Aktiven mit demonstrativ umgehängten Atemmasken ein paar Transparente: „Es stinkt!“ und „Erst im Stau, dann Klima- GAU“. Woraufhin ein bulliger Geländewagen aus Hamburg mitten unter die DemonstrantInnen brettert und der Fahrer über seinen Außenlautsprecher „Ihr Spastiker!“ in die johlende Menge bellt. Nach zehn Minuten ziehen sich die RadlerInnen dann an den nahe gelegenen Halensee zum abschließenden gemeinsamen Bad zurück.

Die Bilanz dieser Juli-Tour: Der Fahrer eines Mitsubishi-Sportwagens erstattet Anzeige gegen einen Radfahrer, der auf seine Kühlerhaube gefallen ist und eine Delle verursacht hat.

Die Polizei mahnt, ohne den Abschlußstau wäre alles besser verlaufen. Und die RadlerInnen haben schon die nächste Tour für kommenden Freitag geplant.

Sie stehen vor der heiklen Aufgabe, der zufälligen Zusammensetzung der kritischen Masse mehr Disziplin einzubimsen. Der Umgang mit Polizei und AutofahrerInnen soll sich entspannen. „90 Prozent der Autofahrer sind vernünftig und würden wahrscheinlich auch lieber auf dem Fahrrad sitzen als in ihrer Blechkiste“, sagt Anton Vierling. „Wenn wir die nicht erreichen, haben wir was falsch gemacht.“

* Namen der RadfahrerInnen geändert. Informationen im Internet unter: critical-mass.net

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