: Verwirrung der Sinne
„Blickstörung“: Die 51. Ausgabe des Schreibhefts erzählt von dem Leiden und der Lust am Comic ■ Von Ole Frahm
Alle paar Jahre geht in der Comic-Szene das Gerücht um, Comics seien tot. Ihre Zeit wäre vorbei. Eine Krise, das Internet oder was auch immer komme. Meist wird rechtzeitig irgendein neuer Trend entdeckt, der alles rettet. Gerüchte dienen gewöhnlich der Unterhaltung – in der Comic-Szene offenbaren sie ein komisches und schwer heilbares Leiden an der Lust am Comic. Immer jammert der Fan, immer fehlt ihm was: Comics werden zuwenig ernstgenommen, es mangelt ihnen an Realität oder Kunst – was immer. Eine empfehlenswerte Medikation für solch Leiden ist jetzt als 51. Ausgabe der Literaturzeitschrift Schreibheft unter dem langen Titel Sprechende Bilder – Blickstörung – Vom Eigensinn der Comics erschienen.
Die Hamburger Herausgeber Martin tom Dieck (Zeichner) und Jens Balzer (Journalist) arbeiten nicht nur beide für die taz hamburg, sie haben kürzlich auch den Comic Salut Deleuze! in Belgien veröffentlicht. Mit dem Schreibheft liefern sie den Kontext ihrer Arbeit nach und sind für die interessanteste Comic-Veröffentlichung im deutschsprachigen Raum 1998 verantwortlich.
Selbst den comic-geübten Blick stören hier versammelte 20 Jahre Comic-Avantgarde aus aller westlichen Welt auf. Deren Zusammenstellung ist weder modisch noch reißerisch. Kein Tod, keine Neugeburt wird ausgerufen. Dennoch herrscht auf den 227 Seiten kaum Langeweile. Zwischen den schwarzen Buchstaben und den schwarzweißen Zeichnungen der 20 ProduzentInnen entspannt sich eine Dynamik, deren Überschuß kein Leid duldet, sondern reflexiven Genuß fordert. Aus dem unversöhnlichen Aufeinandertreffen von Schrift und Bild, das in genug Comics kein Thema ist, werden hier Geschichten angeordnet, in denen Buchstaben auch gesehen werden müssen – und Bilder nicht nur betrachtet, sondern auch gelesen. Diese moderne Verwirrung der Sinne begründet den „Eigensinn der Comics“: Ihn pflegt die im Schreibheft rekonstruierte Avantgarde mit ganz unterschliedlichen Mitteln.
Der von den Herausgebern favorisierte semiotische Genuß bedarf der Gewöhnung. Die Gebrauchsanweisungen, in denen Balzer jeweils knappe historische und präzise methodische Einsicht in die Auswahl und Bedeutung der jeweiligen ZeichnerInnen gewährt, sind nicht nur aus diesem Grund sorgfältig zu lesen. Sie enthalten gleichzeitig eine ästhetische Comic-Theorie, die aus ihrer Liebe zu Comics vom Leiden der Fans nichts wissen will. Beim ersten Blättern in dem Band wird nicht nur Banausen beispielsweise Gary Panters ideosynkratische, aber folgenreiche Comics als Gekrickel oder Gekrakel erscheinen. Nach der ersten Lektüre der Bildstörung enthüllt sich das Kritzlige als eine neue Zeichenwelt, die in der notwendig wiederholten Lektüre nichts an Spannung und Verwirrung verliert: Die Unentscheidbarkeit, ob der Blick eben noch entziffert oder schon gestarrt hat, läßt sich nicht ,aufheben'.
Damit wird durch die Comics eine politische Frage gestellt: Welche Mächte regulieren, was die Zeichen als Wahrheit bezeichnen? Es mag Menschen geben, denen das zu dumm, andere, denen das zu intellektuell ist. Manche leiden daran. Ihr Problem. Dank des Schreibhefts gibt es nun so viele lebendige Comics zu entdecken, daß die Gerüchte weiterhin unterhalten.
Schreibheft. Zeitschrift für Literatur, Nr. 51 (1998): „Sprechende Bilder. Blickstörung – Vom Eigensinn der Comics“, 17 Mark
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