■ Der rächende Jude: Die Inszenierung „Walser gegen Bubis“ stellt die Szene nach, die seit Jahrhunderten antijüdische Ressentiments nährt: Öffentliches Reden, privates Schweigen
Martin Walser sagt, Tausende von Menschen hätten seine umstrittene Rede, die er im Oktober anläßlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels gehalten hatte, als Befreiung empfunden. Er hat wohl vielen Deutschen aus dem Herzen gesprochen bezüglich der Erinnerung an den Nationalsozialismus und den Holocaust. Gerade auch den jungen Leuten, die sich oft darüber beklagen, daß sie in der Schule „ständig“ mit dem Thema „bombardiert“ würden und es ihnen allmählich zum Hals heraushinge und sie nichts mehr davon hören wollten.
Was setzt Walser nun diesem offensichtlich mißlungenen öffentlichen Erinnern entgegen? Er empfiehlt, sich auf sein Gewissen zurückzuziehen, diese „tiefste innerliche Einsamkeit“, diese „durchgängige Zurückgezogenheit in sich selbst“. Wie kann man sich nun dieses Innerste vorstellen, beziehungsweise was entdecken die nichtjüdischen Deutschen, wenn sie sich auf sich selbst zurückziehen und in sich hineinschauen? Im allgemeinen eine innere Leere, überdeckt von einem diffusen Schuldgefühl. Dies jedenfalls ergaben die Ergebnisse psychologischer und psychoanalytischer Forschungen zum Thema.
Die Leere resultiert aus dem Schweigen in den Familien. Denn das Gewissen bildet sich nicht da, wo der Mensch in „tiefster Einsamkeit mit sich alleine“ ist, sondern es entwickelt sich in der Beziehung mit bedeutsamen anderen, die unseren Lebensweg begleiten. Und von diesen bedeutsamen anderen erfahren die allermeisten Deutschen, daß es zum Thema Nationalsozialismus nichts zu sagen gibt. Auch nach über fünfzig Jahren wird nach wie vor geschwiegen in den deutschen Familien zum Thema Judenverfolgung und Judenmord. Wenn die Kinder und Enkel nach der Vergangenheit fragen, bekommen sie Antworten über Krieg, Vertreibung, Flucht und Not. Sie erfahren etwas über die Not der Deutschen, nicht über die der anderen.
Dieselben Kinder und Enkel werden nun vor allem in den Schule und in den Medien mit öffentlichem Erinnern konfrontiert. Diese Kluft zwischen öffentlichem Reden und privatem Schweigen führt dazu, daß sich beide Seiten gegenseitig verdächtigen: Aus privater Sicht wirkt das öffentliche Reden aufgesetzt und übertrieben; wurde den meisten doch vermittelt, daß der Nationalsozialismus sie nichts angeht. Umgekehrt wird das Privatleben durch das Wissen über die nationalsozialistischen Verbrechen mit einem Generalverdacht belegt: Sind die eigenen Vorfahren, die meist doch durchaus liebenswerten Eltern und Großeltern, denn auch solche Verbrecher? Bei jeder noch so unscheinbaren Frage schwingen ungeheuerliche Verdachtsmomente mit, die ihr jede Harmlosigkeit nehmen und das Gespräch meistens von vornherein blockieren.
Wenn Martin Walser also den Rückzug auf das individuelle Gewissen als Lösung propagiert, um der öffentlichen Funktionalisierung von Erinnerung zu entgehen, stellt er uns vor die Wahl zwischen Skylla und Charybdis. Oder will er damit sagen, daß man das private Schweigen auch zum Vorbild für den öffentlichen Diskurs nehmen sollte, um endlich, so sein inbrünstiger Wunsch, ein normales Volk zu werden?
Die Bedingung einer solchen Normalität ist aber die Normalisierung der Verbrechen. Und darin sind die Deutschen nicht unerfahren. Wenn zum Beispiel eine Großmutter ihrer Enkelin auf die Frage nach der Reichspogromnacht ohne weitere Anteilnahme erzählt, sie habe irgendwo Scheiben klirren hören, dann versucht sie dies Ereignis zu normalisieren, indem sie ihm jegliche Außergewöhnlichkeit nimmt und ihm jede innere Beteiligung abspricht. Sie erzählt der Enkelin nicht, wer wem die Scheiben eingeworfen hat, ob sie selbst dabei erschrocken ist oder sich gefreut hat, wie sie selbst dazu stand und was sie heute darüber denkt. Nichts. Was sie ihrer Enkelin allerdings um so deutlicher vermittelt, ist: Solche Dinge haben mich nicht berührt und gehen dich auch nichts an. Das Ereignis wird weggerückt, fremd gemacht und seines persönlichen Bezugs entledigt. Das ist das Gegenteil von Aneignung der Geschichte.
Erinnern kann Aneignung oder Entfremdung bedeuten. Insofern ist zu vermuten, daß vieles im öffentlichen Erinnern eher zur Entfremdung führt, weil die Generation, die hier aufklärt, oft selbst nicht gewagt hat, sich der eigenen Täterschaft und der ihrer Vorfahren auszusetzen. Indem sie aufklärt, wehrt sie die eigene Beziehung dazu ab und kann sich zugleich als moralisch überlegen positionieren und von den Nachkommen Unterwerfung einfordern. Und genau deshalb wird diese Geschichte nie aufhören, wirksam zu sein, denn sie lebt fort im Mißtrauen der Kinder gegenüber ihren Eltern und Großeltern, einem Mißtrauen, das mangels Resonanz vielfach in Selbstmißtrauen umschlägt.
Was fehlt, ist die moralische Autorität, die Anhaltspunkte geben könnte, wie man mit dieser Geschichte umgehen könnte, denn die Eltern und Großeltern haben als Autorität längst abgedankt. Sie haben sich selbst infantilisiert, indem sie sagen, daß sie damals nichts hörten, nichts wußten und nichts hätten tun können. So bleiben das Mißtrauen und die moralische Verwirrung ein psychologisches Erbe der Nachkommen. Und nicht zuletzt auch ein diffuses Schuldgefühl, das unauslöschlich auf einem zu lasten scheint, nur weil man Deutsche/r ist. Und viele, gerade auch die junge Generation, empfinden das als ungerechtfertigt und empören sich. Das Ergebnis ist der häufig zu hörende Satz: Wir sind doch viel zu jung, um damit etwas zu tun zu haben.
Diese junge Generation weiß genauso gut wie alle anderen, daß man nicht für etwas schuldig gesprochen werden kann, das man nicht getan hat. Das Schuldgefühl resultiert nicht aus den Taten der Vorfahren, sondern aus der Beziehung der Nachkommen zu ihren Eltern und Großeltern. Diese haben sich selbst ihrer Schuld nicht gestellt und sie an ihre Nachkommen weitergegeben. „Ich fühle mich schuldig, weil mein Vater die Schuld nicht übernommen hat“, so deutlich formuliert eine der in unserer Untersuchung Befragten den Zusammenhang.
Die nachfolgende Generation nimmt diese Schuld mehr oder weniger bereitwillig an, weil sie sie sonst an die Eltern wieder zurückgeben müßte. Sie müßten sie anklagen und sich von ihnen distanzieren. Aber die meisten fragen lieber nicht so genau nach und wollen es nicht so genau wissen. Die Kinder nehmen ihre Vorfahren allzu gerne in Schutz und beschuldigen lieber die Opfer und deren Nachkommen, daß sie keine Ruhe geben würden. Und da wissen sich viele wieder eins mit Martin Walser, der in seiner militaristischen Sprache von den „Meinungssoldaten“, die mit der vorgehaltenen „Moralpistole“ tagtäglich um sich schießen, einer Mischung aus aufgeblasenem Selbstmitleid und moralischem Verfolgungswahn drastisch Ausdruck verleiht.
Und das ist das eigentlich Skandalöse an der umstrittenen Rede von Walser: Er ruft nicht zur Analyse auf, wann und warum Erinnern so oft mißlingt, sondern schürt dumpfe Ahnungen. Er sieht allerorten einen „grausamen Erinnerungsdienst“ am Werk mit dem Ziel der „Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken“. Wer mag es wohl sein, der hier ständig die Moralkeule schwingt? Klaus von Dohnanyi hat ihn wohl richtig verstanden, als er die Juden darauf ansprach, ob sie denn auch geholfen hätten, wenn „nur“ Behinderte, Homosexuelle und Roma verfolgt worden wären.
Das zutiefst Beunruhigende an dem momentanen Streit um die Friedenspreisrede ist folgender Punkt: In der Inszenierung „Bubis gegen Walser“ wird genau die Szene nachgestellt, die seit Jahrhunderten antijüdische Ressentiments nährt – der rächende Jude, der keine Ruhe geben kann, und der Christ als Opfer, der in stillem, einsamen Leiden seine Erlösung sucht. Ein Bild, das auch für den Samstagabendkrimi herhalten muß, in dem der rastlose Jude durch seine Nachforschungen zwei alte Rentner in den Tod treibt und noch 16 weitere auf seiner Liste hat und der von Rosa Roth, der sympathischen, aufgeklärten deutschen Kommissarin, gefragt wird: „Müssen Sie Ihr Wissen als Rache benützen?“ Birgit Rommelspacher
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