: Ist der Ruf erst ruiniert...
Ein dramatischer Zeitungsbericht empört die Leute im Kreuzberger Wrangelkiez. Sicher gibt es bessere und ruhigere Gegenden, aber das Viertel ist kein rechtsfreier Raum, sagen sie ■ Von Plutonia Plarre
Etwas Besseres hätte der CDU nicht passieren können. Wenige Tage nach dem Beginn der Unterschriftenaktion gegen die doppelte Staatsbürgerschaft wartete der sonst eher liberale Berliner Tagesspiegel mit einem Bericht auf, der es in sich hatte: Im ausländerstarken Bezirk Kreuzberg habe die Polizei die Lage nicht mehr unter Kontrolle. „Fast ganz Kreuzberg ist ein gefährlicher Ort.“ Insbesondere der Wrangelkiez, hieß es, „fault innerlich weg“. Die Kriminalität in dem „Ausländerghetto“ sei immens, schlage sich aber nicht in der Statistik nieder, „weil die Bewohner das alles unter sich regeln, ohne die deutsche Polizei einzuschalten“. Die Stimmung gegen die Polizei sei dermaßen feindlich, daß der Kiez „längst nur noch in Mannschaftsstärke aufgesucht wird“. Einzige Quelle des Blattes, das so gern auf seine Seriosität pocht: Zivilfahnder, die anoym bleiben möchten. Eine no go area im Herzen der Hauptstadt? Ganz so hart will es die Gewerkschaft der Polizei (GdP) zwar nicht formulieren, aber die Lage sei dramatisch. „Die Menschen werden mit den Füßen abstimmen und diese Bezirke verlassen“, prophezeit der Berliner Landesvorsitzende der Gewerkschaft, Eberhard Schönberg. Es bestehe dringender Handlungsbedarf. Sonst werde sich der Senat „international blamieren“.
Die Polizeiführung bemüht sich um Schadensbegrenzung. „Es gibt keinen rechtsfreien Raum“, dementiert Landesschutzpolizeidirektor Gernot Piestert, zweithöchster Mann nach dem Berliner Polizeipräsidenten. Es habe schon häufiger Versuche verschiedener Ethnien gegeben, Straftaten unter sich zu regeln, und eine „Schattenwirtschaft“ aufzubauen. „Aber das lassen wir nicht zu.“ Piestert vermutet, daß einige frustrierte Beamte und die Polizeigewerkschaft hinter dem Zeitungsbericht stecken. Schließlich sei in letzter Zeit eine Häufung von Übergriffen auf Polizeibeamte, insbesondere von Ausländern, zu verzeichnen gewesen. „Vielleicht neigen wir bei manchen Einsätzen zur Überreaktion, weil wir von vornherein von einer aggressiven Stimmung ausgehen“, vermutet der Polizeichef und plädiert für Augenmaß.
Bei Durchsicht der Polizeiberichte ergibt sich: Am heftigsten war eine Auseinandersetzung zwischen 50 Türken und 100 Polizisten am 27.12.98 in Kreuzberg. Eine türkischstämmige Beamtin war dabei von ihren eigenen Landsleuten als Verräterin beschimpft und krankenhausreif geschlagen worden (die taz berichtete). Die anderen Übergriffe ereigneten sich nicht in Kreuzberg, sondern in Schöneberg, Prenzlauer Berg und Köpenick. Einmal wurde ein Streifenpolizist von einem flüchtenden 14jährigen mit einem Lieferwagen eingequetscht, der ein jugoslawisches Kennzeichen hatte. Ein anderes Mal raste ein 19jähriger Türke mit seinem BMW auf eine Politesse zu und verletzte die Frau am Unterleib. Einer zweiten Beamtin klemmte er einen Finger in der Wagentür ein. Bei dem letzten Vorfall am 22. Januar wurden vier Polizisten, darunter zwei Frauen, bei der Festnahme eines vietnamesischen Zigarettenhändlers von zehn Jugendlichen mit Faust- und Fußtritten traktiert. Zwei Türken wurden festgenommen.
Das alles soll Kreuzberg nun wohl ausbaden. Daß über ihren Kiez wenig Gutes geschrieben wird, sind Anwohner und Immigrantenverbände gewohnt. Die ausländerfeindliche Diktion und einseitige Darstellung im Tagesspiegel haben dennoch viele zutiefst empört. Im Wrangelkiez gebe es viele Probleme, aber so schlimm sei die Lage nun wahrlich nicht, ist man sich einig. „Durch so etwas wird der Kiez endgültig niedergemacht“, befürchtet Dieter Aßmann vom Nachbarschaftshaus „Zentrum“, einem Zusammenschluß vom Immigrantenprojekten. „Bald traut sich wirklich kein Außenstehender mehr her.“ Der Kreuzberger Bürgermeister Franz Schulz (Bündnis 90/Die Grünen), selbst Mieter im Wrangelkiez, spricht von „Gebietsdiskreditierung“. Die Behauptung, die Polizei bewege sich nur noch in Mannschaftsstärke, verwundert ihn doch sehr. „Zwei Beamte stehen doch immer am türkischen Imbiß und futtern gemütlich Hähnchen“, weiß Schulz.
„Dafür, daß sie sich nicht mehr hertrauen, verteilen sie ganz schön viele Strafzettel“, grinst ein türkischer Frisör aus dem Wrangelkiez. Auch die Blumenhändlerin, die seit 25 Jahren hier wohnt, hat „so einen guten Witz schon lange nicht mehr gehört“. Der 31jährige Özcan Mutlu, Grünen-Direktkandidat für die Abgeordnetenhauswahlen im kommenden Oktober, hält die ganze Diskussion für pure Heuchelei. „Die Kobs gehen doch jeden Tag allein durch die Straßen und sind kein Freiwild“, empört er sich. Der gebürtige Kreuzberger hält seinen Bezirk nach wie vor für einen der sichersten in der Stadt. Die Wahrheit über den Wrangelkiez gibt es nicht. Das zwischen Görlitzer Park, Spree, Landwehrkanal und Hochbahn gelegene Viertel hat trotz seiner Schmuddeligkeit Charme: Das Leben spielt sich auf der Straße ab. In den vielen kleinen Geschäften in der Einkaufsstraße ist das Ladenschlußgesetz schon lange außer Kraft gesetzt. Die farbenfrohen türkischen Gemüseläden und Teehäuser verströmen orientalisches Flair. Die Kundschaft des frisch renovierten Bioladens kommt keineswegs nur aus der Alternativszene. Geschäftsführerin Susa: „Es kommen immer mehr umweltbewußte türkische Mütter.“ Aber die Armut und das soziale Elend sind unübersehbar.
Vor Kaiser's Supermarkt steht eine Gruppe Alkis. Im St.-Marien- Kloster warten Obdachlose stumm auf die Öffnung der Suppenküche. Vor den über und über mit Graffiti besprühten Hauswänden türmen sich Hundekacke und Müll. „Es gibt bestimmt schönere Ecken, aber auch langweiligere“, schwört eine Fernsehjournalistin auf ihren Wohnkiez.
Auch was Kriminalität und Agressivität angeht, gibt es nicht nur eine Wahrheit. Erst gestern morgen wurde der Filialleiter des Penny-Marktes in der Wrangelstraße von drei, laut Polizei vermutlich ausländischen Tätern niedergestochen. Das Motiv ist unklar, geraubt wurde nichts. In einer Querstraße steigen zwei elegante Damen aus einem Auto. Die ältere mit einem roten Strohhütchen hat die Antwort sofort parat: „Schreiben Sie: Mutter aus Bonn besucht mit Tochter aus New York Sohn in Kreuzberg. Ich fühle mich hier wohl. Mir ist hier noch nie was passiert.“
Die Besitzerin des Papier- und Spielwarenladens, Frau Kensbock, beobachtet die Entwicklung dagegen mit Sorge. „Ich selbst habe keine Angst, ich liebe den Kiez“, sagt die Frau, die seit 35 Jahren in dem Viertel lebt. Gedanken macht sie sich, weil das Ladenschild Silvester mit scharfer Munition durchlöchert wurde. Und vor wenigen Tagen ist eine über 90 Jahre alte Stammkundin wenige Meter weiter in ihrem Hauseingang um 3.000 Mark beraubt worden. Das Geld hatte sie gerade von der Post geholt. „Das kann überall passieren. Aber für mich ist es ein Bausteinchen mehr“, sagt die Inhaberin.
Der Überfall auf die alte Dame hat sich wie ein Lauffeuer herumgesprochen. „Man erfährt alles und hilft den anderen“, erzählt Wirtin Ingrid vom Wrangeleck. In dieser Hinsicht sei der Kiez noch intakt.
Ein paar Straßen weiter befindet sich das „Kerngehäuse“. Der 1980 besetzte und später legalisierte Gebäudekomplex mit Wohnungen, Werkstätten, Theater und begrünten Innenhöfen mutet im Kiez wie eine Oase an. „Es wächst eine Generation heran, die bereit ist, sofort Gewalt anzuwenden“, stellt der Modellbauer Herman Hola fest, der zum Besetzer-Urgestein gehört. Er meint damit „zwei bis drei“ rivalisierende türkische Jugendbanden, die ganz offensichtlich in die Drogenkriminalität verstrickt seien. Bei Polizeieinsätzen hat Hola festgestellt, daß sich andere Jugendliche aus dem Kiez mit diesen Banden solidarisieren. „Die meisten wissen gar nicht, um was es geht. Aber im Zweifel wird immer zu den eigenen Leuten gehalten.“ Das sei für einen Zivilfahnder natürlich ein Problem. „Er muß tief in den Bezirk hinein und weiß, daß von der Bevölkerung kein Schutz zu erwarten ist.“
„In der türkischen Gesellschaft ist es nun einmal so, daß man versucht, Konflikte innerhalb der Familien zu lösen“, sagt der Geschäftsführer des türkischen Bundes, Kenan Kolat. „Aber wenn es um Straftaten geht, muß die Polizei eingreifen. Es darf keine rechtsfreien Räume geben.“ Kolat macht keinen Hehl daraus, daß viele türkische Jugendliche infolge ihres Statusverlusts durch die hohe Arbeitslosigkeit „viel aggressiver“ sind als früher. Aber so manche Auseinandersetzung in der Vergangenheit sei auch von der Polizei provoziert worden. Aufgrund von Unkenntnis der anderen Kultur seien viele Beamte bei Einsätzen gegen Einwanderer überfordert. „Das führt dazu, daß sie entweder ganz hart rangehen oder sich gar nicht erst hintrauen.“ Dagegen, so Kolat, gibt es nur ein Rezept: „Wir brauchen mehr Dialoge.“
Der Anfang ist gemacht. Bereits vergangenen Samstag trafen sich zehn türkische Jugendliche mit sechs Polizisten zur Nachbereitung der Ereignisse vom 27.12.98. Nach der Fehde auf der Straße saß man nun zusammen am runden Tisch. Es blieb zwar größtenteils bei gegenseitigen Schuldzuweisungen. Aber beide Seiten haben sich vorgenommen, mehr miteinder zu reden und beim nächsten Mal etwas „cooler“ zu reagieren.
Nachholbedarf hat offenbar auch der Tagesspiegel: Vor einigen Tagen wurde ein Reporter des Blattes auf Recherche im Wrangelkiez gesehen.
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