■ Seit 350 Jahren schon ruht der Bodensee als europäisches „Niemandswasser“ vor sich hin: Freundnachbarliches Loch
Am Bodensee wird der Alptraum aller Grenzpolizisten wahr: Wie kann man eine Grenze bewachen, die es gar nicht gibt?
Denn niemand weiß: Wo hört Deutschland auf; wo fangen Österreich und die Schweiz an? Üblicherweise können Landesgrenzen bis auf den Zentimeter genau angegeben werden – nicht aber auf dem Bodensee. Ausgerechnet in der ordentlichen Mitte Europas wurden die Grenzen nie staatsvertraglich geregelt. Zwischen Konstanz und Bregenz hat die Außengrenze der Europäischen Union, aber auch der Nato ein über 40 Kilometer langes Loch.
Grenzgewässer ist das „Schwäbische Meer“ erst seit 350 Jahren. Davor lag der Bodensee als Reichsgut mitten im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Als aber die Schweizer Eidgenossen mit dem Westfälischen Frieden von 1648 aus dem Reich ausschieden, wurde genausowenig eine Grenze festgelegt wie im Jahr 1806, als das Reich aufgelöst wurde. Auch auf dem Wiener Kongreß von 1815 interessierte sich keine Regierung für den Bodensee. In den Verträgen von Versailles und St. Germain nach dem Ersten Weltkrieg wurde lediglich festgestellt, zwischen Deutschland und Österreich gelte „die Grenze von 1914“, zwischen Österreich und der Schweiz die „gegenwärtige Grenze“ – nicht aber, wo denn diese Grenzen zu finden sind.
Vor allem über den Obersee, mit 500 Quadratkilometer Fläche der Hauptteil des Bodensees, zerbrechen sich seit dem 18. Jahrhundert Historiker und Juristen die Köpfe. Immerhin acht Dissertationen sind über dieses „Niemandswasser“ schon geschrieben worden. Herausgekommen sind dabei bisher nur allerlei Theorien. Die „Meerestheorie“ wird bloß von ein paar Akademikern vertreten. Die Abgrenzung zwischen internationalem Gebiet und nationalem Küstengewässer „nach Maßstab tatsächlicher Machteinwirkung vom Ufer aus“ scheint am Bodensee wenig praktikabel – zu leicht kann man heute über den See schießen.
Die „Realteilungstheorie“ ist dagegen auch die Auffassung der Schweizer Regierung. Danach würde der See entsprechend der Uferlänge aufgeteilt und die Grenze in der Seemitte liegen. Doch wer weiß, wo die Seemitte ist? Außerdem hängt die österreichische Regierung seit den 60er Jahren der „Kondominiumstheorie“ an, wonach alle Gebiete bis zu einer Wassertiefe von 25 Metern ausschließlich dem jeweiligen Uferstaat zufallen, die restliche „condominale Seefläche“ aber internationales Gewässer sei.
Deutschland hat es bisher vermieden, sich für eine Theorie zu entscheiden. Im Ersten Weltkrieg kontrollierten deutsche Boote auch auf der Schweizer Seite. Nach Protesten aus Bern ordnete der deutsche Generalstab an, Schiffe und Zeppeline sollten „in freundnachbarlicher Gesinnung zur Vermeidung von Unzuträglichkeiten“ die Seemittellinie nicht mehr überfahren. Auch im Zweiten Weltkrieg wurde von deutscher Seite so getan, als ob die Grenze in der Mitte verliefe – ohne sie jedoch völkerrechtlich anzuerkennen. Und so halten es bis heute auch die internationalen Vereinbarungen zur Regelung des praktischen Zusammenlebens am See: Die Bodensee-Schiffahrts-Ordnung beispielsweise berührt ausdrücklich nicht den „Verlauf von Staatsgrenzen“ (BSO Art. 1, Abs. 2) – und läßt sogar in der Formulierung offen, ob es auf dem Obersee überhaupt Staatsgrenzen gibt.
Praktische Folgen hat dieser nebulöse Zustand dank der Zusammenarbeit in der „Euregio Bodensee“ allerdings kaum. Als 1974 der clevere Geschäftsmann Björn Sunne auf die Idee kam, den Hohen See als Zollfreigebiet für Butterfahrten zu nutzen, waren sich die Behörden schnell einig und unterbanden das lukrative Geschäft. Und wenn ein Flugzeug in den See stürzt, übernimmt ein Staat die Federführung, die anderen beteiligen sich – mit mehr oder weniger großer Begeisterung – an den Kosten der Bergung.
Manchmal hakt es allerdings doch. Der streitbare Vorarlberger Martin Bilgeri zum Beispiel ist seit Jahrzehnten ein erbitterter Feind der Kondominiumstheorie und ihrer „Kolchosen-Bedingungen wie in den Oststaaten“ – für ihn ist die Bregenzer Bucht, wo er die Fischereirechte besitzt, österreichisches Hoheitsgebiet. Da können die bayrischen Fischer noch so treuherzig versichern, der Wind, also „höhere Gewalt“, habe ihre Netze abgetrieben – Bilgeri beschlagnahmt alles, was auf seinen (im österreichischen Grundbuch eingetragenen) Parzellen schwimmt, und rückt nichts mehr raus.
Der Höhepunkt dieses „Fischerkriegs“ war 1991, als Bilgeri von einem deutschen Polizeiboot versenkt wurde. Im September 1998 hat der Oberste Gerichtshof in Wien die Klagen Bilgeris gegen seine Lindauer Kollegen endgültig zurückgewiesen: Zu den Grenzen auf dem See lägen unterschiedliche und wechselnde Rechtsstandpunkte der Uferstaaten vor und Bilgeri habe keine Beweise für seine Parzellengrenzen.
Die Schweizer Regierung hat trotz ihrer Auffassung, die Schweiz habe klare Grenzen, gegen dieses Urteil nicht protestiert. Das könnte sich einmal rächen. Die Rechtsunsicherheit bleibe nämlich „eine latente Konfliktquelle“, warnt der Thurgauer Jurist Graf- Schelling in seiner Grenz-Dissertation. Trotz der „vordergründig praktizierten Harmonie“ am See seien wichtige Fragen ungeklärt: die Nutzung des Sees für industrielle Zwecke, Energiegewinnung oder Ausbeutung von Bodenschätzen. – Wenn also zwischen Rorschach und Bregenz Öl gefunden wird, wird dann die Schweizer Marine eingreifen? Martin Ebner
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