: Noch immer glühend
Einst war Heinz Florian Oertel der legendäre Sportreporter der DDR. Jetzt begeistert er als Buchautor selige Fans ■ Von Gunnar Leue
„Eine meisterliche Leistung“, sprach, nicht etwa schrie Heinz Florian Oertel am 20. Juni 1974 ins Reportermikro des DDR-Fernsehens. So, als beschreibe er ein Schnitzwerk aus dem Erzgebirge. Jürgen Sparwasser hatte gerade das Tor zum Sieg des Fußball- Zwergs DDR im WM-Spiel gegen die BRD geschossen. Die Sensation nur „eine meisterliche Leistung“? Und das von Oertel, den man in der DDR als einzigartigen Rufer in der sprachlichen Wüste der Sportreportage kannte. Der mit seiner zuweilen krampfhaften Suche nach der nie zuvor gesprochenen Metapher zur Legende des DDR-Sportjournalismus wurde? – Was hat er nicht mitgelitten in der „Größe des Augenblicks“, als auch er „der Macke nahe“ war. Wenn er in der Reporterkabine mehr stand als saß, weil, wie er sagt, so die Verbeugung vor dem Athleten tiefer wurde. Oder wenn ihm ein „halbes Gebirge“ vom Herzen fiel, weil Katarina Witt fehlerfrei durch die Eiskür kam, wo ja „auch das Gesicht mitlaufen muß“.
Er war ein Wettkampftyp. Von zig Olympischen Spielen, Fußball-, und Leichtathletik-WMs hat der Cottbusser berichtet und in blumigen Bildern geschwelgt, wann immer DDR-Sportler gewannen. Sein berühmtester Euphorieausbruch über den Olympiasieg des Marathonläufers Waldemar Cierpinski 1980 („Liebe junge Väter oder angehende, haben Sie Mut, nennen Sie Ihre Neuankömmlinge Waldemar!“) sprach sich sogar bis zum japanischen Kaiser herum. „Sie sind also der Mann, nach dem bei Ihnen zu Hause die Kinder benannt werden“, hatte dieser ihn mal begrüßt.
Doch Oertel, der mit kariertem Jackett und Schiebermütze zuweilen wie Sherlock Holmes daherkam und auch gegenüber Interviewpartnern stets die Höflichkeit eines Gentlemans pflegte, war nie ein DDR-Chauvi. Da traten die eigenen Cracks zum Abräumen des Medaillensatzes an – aber Oertel sah nur „einige heiße Eisen von uns im Feuer“. So viel Understatement wissen manche erst zu schätzen, seit sie von den bundesdeutschen Reportern mitversorgt werden. Die faseln, wie jüngst bei der Vierschanzentournee, schon nach dem zweiten Trainingsspringen vom Gesamtsieg des Martin Schmitt und wissen später genau, warum es doch nicht klappte.
In solchen Momenten befallen Oertel – der über die „Persönlichkeitseigenschaften und Tätigkeitsqualitäten sprechender Reporter“ promovierte – regelmäßig die Zweifel an seiner Zunft. Zu viele „Nieten“, schimpft er, gebe es in den Sportredaktionen der Sender. Sicherlich hätte der 71jährige, meint er, immer noch „bestimmten Medienbereichen manches geben können“. Doch abgesehen von gelegentlichen Tätigkeiten für ORB und MDR wird Oertel nicht mehr häufig gefragt. Einer Einladung, das Bundesligaspiel Stuttgart – Köln in der ARD-Schaltung im Dezember 1989 zu kommentieren, war nie mehr eine gefolgt. Daß ihn das kränke, bestreitet Oertel. Mit 63 sei sein „berufliches Rennen eh gelaufen“ gewesen.
Gefragt ist Oertel aber knapp zehn Jahre später immer noch. Heute reist er mit auf Lesetour durch den deutschen Osten. Mit einem Buch, das dort eine Auflage nach der anderen verkauft. Und das Oertel regen Zuhörerandrang beschert. Ostseliges Jungvolk kommt ebenso wie DDR-sportselige Veteranen. Dabei verbreitet der Autor in „Höchste Zeit“ (Verlag Das Neue Berlin) kaum die immer noch begehrten Klatschgeschichten über die ihm bestens bekannten Ost-Stars. Vielmehr sinniert er umfänglich über ein „ost- westdeutsches Grundproblem“. Er wolle sich („ein Millimeterversuch“) gegen die „Vergangenheitsverurteilung“ der Ostdeutschen wehren. Er begründet das mit seiner Erfahrung als vom Krieg Geprägter, der in der DDR die Hoffnung auf ein besseres Deutschland sah und im Kalten Krieg erlebte, wie westdeutsche Sportpolitiker dem DDR-Sport den Eintritt in die internationalen Arenen zu erschweren versuchten.
Seine Erinnerungen haben für ihn nichts mit Ostalgie zu tun. Genausowenig reitet er wilde Attacken gegen die Dopingprozesse, durch die der DDR-Sport viel von seinem Glanz verliert. Dazu habe ihn viel zu sehr die „trübe Erkenntnis“ getroffen, daß auch die DDR- Sportgewaltigen dem „menschen- und sportfeindlichen“ Doping nicht widerstanden. Darum auch fällt es ihm „schwer, die Leute zu verteidigen“. Nicht zuletzt, weil sie den Schatten auf das DDR-Sportsystem geworfen hätten, das doch insgesamt zu Recht Erfolg gehabt habe. „Man muß die Prozesse nun durchstehen“, findet Oertel, „aber danach auch die BRD-Verhältnisse anschauen und überall reinen Tisch machen.“
Bei solchen Sätzen nickt die Zuhörergemeinde. Hat er wirklich an den sauberen Sport geglaubt? „Unter Kollegen haben wir offen darüber gesprochen und hatten auch manchen Verdacht, wie bei den Schwimmerinnen.“ Aber: „Es blieb nur die Vermutung, die mir kein Recht gab, jemanden öffentlich zu diffamieren.“
Dennoch: Seinen antiquierten Stil werfen Oertel einige vor, nicht jedoch, daß er ein dumpfer Ideologe sei. Es klingt auch nicht wie eine Ausrede, wenn Oertel keinen Unterschied machen will, ob jemand von Staats wegen dopt oder des Geldes wegen, ob im Sport oder im Job (wozu er Tabletten- oder Alkoholgebrauch zählt). Allerdings lebt Oertel, der Dope- Totalverweigerer, auch danach: No alc, no cigarettes, only sports. Er scheint fast trotzig beweisen zu wollen, daß Sport den Körper und Geist gesund hält. Der gebräunte drahtige Mann gibt sich alle Mühe, danach auch auszusehen.
Auch glaubt er unbeirrt an die olympische Idee: „Diesen Grundgedanken von Toleranz, Friedlichkeit, Achtung, Fairneß kann keiner töten, weil er an der Basis des Sports lebt.“ Die Naivität des Heinz Florian Oertel hat etwas Faszinierendes, weil da jemand, ungeachtet des Sumpfs der Skandale, an die Pflänzchen der Ideale glaubt. Der gelernte Schauspieler und Lehrer ist aber nicht nur sprachlicher Traditionalist – der sich ohne jede Ironie einen „glühenden Verehrer des Sports“ nennt –, sondern auch Konservativer in Sachen Berufsethos. Mit den Selbstdarstellern und Handlangern des Starrummels von heute, „den Gleichgetrimmten, den Männer-Barbie-Puppen mit denselben flotten Sprüchen“, fühlt sich Heinz Florian Oertel nicht gemein.
Auch wenn er einst selbst ein journalistischer Weltenbummler zwischen Sport und Unterhaltung war. Im DDR-Fernsehen gab Oertel auch den Entertainer, als Moderator einer großen Samstagabend-Show wie als Interviewer in 254 Talksendungen „Porträt per Telefon“. Das DDR-Publikum kürte ihn dafür immerhin 17mal zum „Fernsehliebling des Jahres“.
Es waren wertlose Lorbeeren nach der Wende, durch die Oertel aus der großen Öffentlichkeit verschwand. Nun spricht er ohne erkennbare Wehmut von „der Basis“ und dem Sport ganz unten. Und bald fährt der vitale Rentner wieder aufs Dorf. Diesmal wird er für einen kleinen Sportverein in Mecklenburg-Vorpommern das Jubiläumsfest moderieren.
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