Kommentar: Berliner Besonderheiten
■ Wo hört die Ideologie auf und fängt Politik an?
Worüber geben eigentlich Wahlprognosen Auskunft, und was haben Wählerstimmungen mit Wählerstimmen zu tun? Noch vor der Hessenwahl galt es als ausgemacht, daß mit dem Kanzlerwechsel auch die Ära Diepgen zu Ende geht. Davon ist nun nach dem Rücktritt Lafontaines kaum mehr die Rede. Aber ist die Große Koalition deswegen besser geworden?
Diese Frage müßte sich derzeit eigentlich keine Partei dringender stellen als die SPD. Gerade weil bei den Berliner Genossen keine Doppelspitze à la Schröder-Lafontaine den Ton angab, wird der Verlust des sozialdemokratischen Urgesteins in der Hauptstadt um so deutlicher spürbar sein. Der Beifall für Lafontaine vergangene Woche in der Volksbühne hat immerhin gezeigt, daß ein Quartett von Modernisierern allein nicht ausreicht. Dazu gibt es, gerade in Berlin, zu viele Modernisierungsverlierer unter den Wählern.
Daß sich die Berliner Politiker in kniffligen Fragen aber lieber wegducken, ist eine Berliner Besonderheit, die mit der politischen Topographie der Stadt mehr zu tun hat als mit deren Realität. In keiner Stadt der Republik spielen die sozialen und wirtschaftlichen Interessen der Wähler eine geringere Rolle als in der ehemals geteilten Stadt. Das betrifft nicht nur die Westberliner Frontstadtmentalität, die vor allem das Kleinbürgertum nachhaltig an die CDU bindet. Es gilt auch für die PDS, die sich im Osten als antiwestliche Volkspartei hält. Was aber ist dabei Politik, was Ideologie?
Nach dem Durchmarsch Schröders in Bonn wird auch in Berlin bis Herbst die Debatte um die „Neue Mitte“ im Vordergrund stehen. Diese Diskussion wird zumindest in Berlin mit seinen wachsenden sozialen Problemen so lange eine Geisterdebatte bleiben, solange es nicht gelingt, sie ihrer ideologischen Rhetorik zu entkleiden. Selbst der SPD-Landesvorsitzende Peter Strieder muß inzwischen einräumen, daß die neue Mitte bei weitem nicht das wahlentscheidende Milieu der Stadt ist. Wer aber dann?
Nur mit der Wahrnehmung der Wirklichkeit läßt sich Wirklichkeit verändern, hat Brecht einmal gesagt. Und der ist schließlich nicht zurückgetreten, sondern hat erst vor kurzem seine Wiederauferstehung gefeiert. Uwe Rada
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