■ Wohin steuern die Grünen nach Oskar Lafontaines Abgang?: Die neuen Widerspruchsketten
Die Frage, welche Politik mit Lafontaines Abgang gescheitert ist, verdient mehr als nur akademisches Interesse. Denn nun kristallisieren sich die Möglichkeiten und Grenzen von Rot-Grün neu. Für die Grünen wirft er die existentielle Frage auf, was sie zukünftig sein wollen: gewissermaßen als Lafontaine-Ersatz praktische Kritiker von Schröders Wirtschaftsliberalismus zu sein – oder eine Art gemäßigte FDP, die an Schröders Seite die zögerliche, halb widerwillige SPD in Richtung Neoliberalismus manövriert?
Lafontaine ist mit dem Versuch gescheitert, eine keynesianistisch gefärbte Finanzpolitik in den 90ern zu machen. Warum? Daß er den Kanzler gegen sich hatte, war der Auslöser, nicht der Grund. International stand er mit der Forderung, das Primat der Politik über die Ökonomie wiederzugewinnen, ziemlich allein da. Die deutschen Unternehmensverbände inszenierten eine hysterische, komplett übertriebene Kampagne und drohten unverhohlen mit Kapitalflucht. Und die Hessen-Wahl zeigte, daß die gesellschaftliche Mehrheit für Rot-Grün wackelt.
Hinzu kommt, daß Lafontaines Idee, gesellschaftliche Ungerechtigkeiten per Gesetz zu beseitigen, heutzutage – anders als in der klassischen industriellen Moderne – sich in immer neuen Widerspruchsketten verfängt. In Gesellschaften, in denen Vollerwerbsarbeitsplätze und Männer, die von 18 bis 65 im gleichen Job arbeiten, die unangefochtene Norm waren, war es (manchmal) möglich, politisch präzise einzugreifen. Wie kompliziert dies heute geworden ist, zeigen beispielhaft die Gesetze über die 630-Mark-Jobs und die Scheinselbständigkeit.
Für beide gibt es politisch gute Gründe: Weil Unternehmen zusehends Stellen in sozialversicherungsfreie, billige Teilzeitjobs splitten, hat Rot-Grün diese Möglichkeit (etwas) weniger attraktiv gemacht. Voraussichtliches Resultat: mehr Schwarzarbeit. Oder bestimmte Jobs fallen ganz weg. Ähnliches gilt im Fall der Scheinselbständigen. Diese zahlen keine Beiträge in die Renten- und Krankenversicherungen und entziehen den ohnehin höchst strapazierten bürokratischen Solidarsystemen die Mittel. Doch die Abschaffung der Scheinselbständigen droht nun Arbeitsplätze zu vernichten – Arbeitsplätze, die eben nur so und nicht als Vollerwerb funktionieren. So produziert der Versuch, in ausgefransten, unübersichtlichen postmodernen Arbeitsgesellschaften politisch mehr Gerechtigkeit zu schaffen, kaum berechenbare unintended effects. Anders gesagt: Politik kann diese Probleme nicht mehr auflösen, sondern nur verzögern, verschieben, mildern. Auch das ist eine unerfreuliche, aber notwendige Lehre aus Lafontaines Rücktritt.
Freilich gibt es zu diesem nicht sehr souverän wirkenden Trial-and-error-Verfahren keine brauchbare Alternative: Es sei denn, man verzichtet auf den Versuch, politisch Gerechtigkeit herzustellen, erklärt die bürokratischen Solidarsysteme zu lästigen Überbleibseln der Fabrikgesellschaft und hofft fromm, daß es fortan jeder schon allein schaffen wird. Kurzum: Man redet so wie Wolfgang Gerhardt und glaubt, daß Eigenverantwortung ein Zauberwort ist, das alles Böse aus der Welt vertreibt.
Und die Grünen? Nach Lafontaines Abtritt konnten sie gar nicht aufhören, von der nun dringend notwendigen Steuersenkung für die Wirtschaft zu reden. Auch fehlte es nicht an Kommentatoren, die den Grünen rieten, endlich den linken Vergangenheitsballast abzuwerfen und zu werden, was sie eigentlich doch längst sind: eine etwas andere FDP.
Das sogenannte Kuhn-Papier, das den grünen Wirtschaftskurs bestimmen soll, zeigt hingegen Augenmaß. Unternehmenssteuern auf 35 Prozent senken wollten die Grünen schon seit längerem, im Zentrum steht freilich die Gerechtigkeit. Mit einem subventionierten Niederiglohnsektor will man vielleicht experimentieren – auch das wird nur als „trial and error“ gehen. Nicht Dreßler, aber erst recht nicht Westerwelle, so lautet die grüne Botschaft. Das ist unspektakulär, nährt aber die Hoffnung, daß in dieser Partei doch mehr Substanz steckt, als man gemeinhin beim „Tagesschau“-Gucken denkt. Und gegen den Weg Richtung FDP spricht für die Grünen ein schlichtes, banales, aber nicht unwichtiges Argument: Es gibt die FDP schon. Stefan Reinecke
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