: Ottos Kapitale
Gewinner des Berliner Baubooms ist derzeit der Normalverbraucher. Teil V der Serie über Berlin zehn Jahre nach Mauerfall „Berlin revisited“ ■ Von Hans Wolfgang Hoffmann
Die Gewinner der Einheit schienen gleich nach der Wende festzustehen. Alle gingen davon aus, Berlin würde die Metropole der Besserverdienenden. Die einen erhofften die Rückkehr der Eliten, die bis in die dreißiger Jahre Berlin bevölkert hatten. Die anderen befürchteten, daß durch den Zuzug der Eliten die ökonomisch Benachteiligten an den Rand gedrängtwerden würden. Diese soziale Vision prägte den Bauboom. Zum einen galt es, die negativen Effekte des Zustroms auf die Ortsansässigen zu verhindern. Wichtiger aber war, Leistungsträgern Offerten zu machen, die ihren Wünschen entsprachen. Offerten, für die es in der geteilten Stadt gar keinen Bedarf gegeben hatte.
Neue Verkaufsflächen schossen aus dem Boden. Im Vergleich zu 1996 werden sie im nächsten Jahr um ein Drittel gewachsen ein. Ein guter Nährboden schienen die östlichen Bezirke zu sein: In den ersten sechs Jahren nach der Wende expandierten die Einzelhandelsquadratmeter um die Hälfte, bis 2000 werden sie sich um weitere 90 Prozent ausgedehnen. Doch der erwartete Kundenzustrom blieb aus. Das Angebot war zu groß. Seit 1994 geht die Einwohnerzahl in Berlin kontinuierlich zurück. Heute leben hier fast 12.000 Menschen weniger als 1990. Die Kaufkraft stagniert. Immer noch liegt sie um knapp ein Drittel unter der in Hamburg oder München. Die Verkaufsfläche pro Bürger jedoch sind inzwischen vergleichbar.
Es herrscht ein ungeheurer Wettbewerbsdruck in der Stadt. Nur vordergründig tobt der Konkurrenzkampf zwischen großen und kleinen Betrieben. Zwar wird sich wohl die Zahl der kleinen Firmen in den kommenden Jahren halbieren. Doch bemerkenswert ist an der Berliner Entwicklung allenfalls die Plötzlichkeit, mit der sie abläuft. In Westdeutschland setzte das Sterben der Tante-Emma-Läden kurz nach Kriegsende ein. Heute beherrschen dort zwölf große Handelsketten mehr als neunzig Prozent des Lebensmittelmarktes, Zehntausende teilen sich den Rest.
Davon ist Berlin noch weit entfernt. Die Umsätze pro Quadratmeter haben sich nicht in direkter Abhängigkeit von der Unternehmensgröße entwickelt. Daß der Marktanteil der Tante-Emma-Läden – wie das Wirtschaftsforschungsinstitut prognos schätzt – in den nächsten Jahren von 38 auf 25 Prozent sinken wird, liegt vor allem daran, daß fast nur die großen Ketten in der Lage waren, ihre Fläche zu erweitern.
Von der Konkurrenz der Anbieter profitiert in jedem Fall einer: der Konsument. Mit mehr Service und Niedrigpreisen, auf die zwei Drittel der Werbung abstellt, versuchen die Anbieter ihre Kunden zu ködern. Daß der Kampf vor allem unter den großen Ketten ausgetragen wird, macht ihre Zielgruppe zu den Gewinnern. König Kunde ist der kleine Mann. Er wird tagtäglich mit Schnäppchenangeboten umworben. Ihm werden – wie am Potsdamer Platz – die Einkaufstempel geweiht, die einst für ein herrschaftliches Publikum konzipiert wurden.
Daß die Baumaßnahmen andere Effekte hatten als angenommen, läßt sich auch anderswo beobachten: auf dem Wohnungsmarkt. Dort waren sie nicht allein Ergebnis privatwirtschaftlicher Spekulation, sondern auch staatlichen Kalküls. Die Prognosen von der wachsenden Metropole beeinflußten die Planungen. Seit der Wende wuchs der Berliner Neubaubestand um 112.000 Einheiten. Auch hier wirkt sich nun die sinkende Bevölkerungszahl aus.
Die Grundstückspreise gaben nach, in den Toplagen Charlottenburgs allein im vergangenen Jahr um fünf, in einfachen Lagen um zehn Prozent. In den achtziger Jahren lag die Mietsteigerung in Westberlin um vier Prozent pro Jahr. Nach den ersten Sprüngen gehen sie jetzt zurück: von zehn Prozent 1994 auf 1,5 1997. Der Mietspiegel 1998 weist mit plus 8,3 Prozent eine deutliche Steigerung nur noch im Westberliner Altbau aus, dessen Entwicklung infolge der Mietpreisbindung während der Teilung besonders stagniert hatte. Das wachsende Angebot gibt den Berlinern größere Spielräume, um sich eine passende Wohnung zu suchen. Im Westteil zogen die Menschen durchschnittlich alle 33 Jahre um, heute bemühen die Bürger spätestens alle zehn Jahre den Möbelwagen. Die neue Bewegungsfreiheit könnte dazu führen, daß sich die geeinte Stadt sozial immer weiter aufspaltet: Einfache Wohngegenden werden zu Armenquartieren, bessere Lagen zu noch homogeneren Orten der Oberschicht.
Die Wanderungsbewegungen weisen freilich insgesamt auf eine andere Tendenz hin: Nicht die gefürchtete Verdrängung ist eingetreten, sondern das Gegenteil. Das ergab eine Studie, die 1998 von Hartmut Häußermann, Regionalsoziologe an der Humboldt-Universität, dem Institut für Stadtforschung und dem Sanierungsträger STERN im Auftrag der Senatsverwaltung für Stadtentwicklungdurchgeführt wurde. Überraschendes Fazit: Nicht die ökonomisch Benachteiligten werden an den Rand gedrückt, sondern die finanziell Mobileren suchen von sich aus das Weite. Allein 1998 verließen fast 40.000 Familien mit höherem Einkommen ihren Berliner Kiez Richtung Brandenburg.
Die Stadtflucht geht genau von jenen Vierteln aus, in die am meisten investiert wurde: die großen Plattenbausiedlungen und die Bezirke im Zentrum Ostberlins. In Mitte und am Prenzlauer Berg gibt es nur kleine Inseln, in denen Reiche die Armen verdrängen. Die Aufwertung des Viertels kommt meist tatsächlich der Klientel zugute, zu deren Schutz am Prenzlauer Berg fast flächendeckend ein besonderes Städtebaurecht eingeführt wurde. Ziel war es, sprunghafte Mietsteigerungen und Luxusmodernisierung zu verhindern.
Während die Sanierung ihre soziale Zielsetzung in den Altbauquartieren durchaus erreicht hat, scheiterte sie in den Plattensiedlungen. Dort bewilligte der Senat mehr Geld, als für irgendeine andere wohnungspolitische Maßnahme, um die Besserverdienenden zu halten. Doch trotz des 13-Milliarden-Mark-Programms, das er 1993 beschloß und von dem heute 8,7 Milliarden bereits zu grünen Höfen, neuen Bädern, Küchen, ganzen Eigenheimen geworden sind, verließen die Leistungsträger die Bezirke in Scharen. So kommen dort heute vor allem Durchschnittsverdiener für einen auf 1,20 Mark pro Quadratmeter begrenzten Modernisierungszuschlag in den Genuß einer Wohnqualität, die so sprunghaft an keiner anderen Stelle der Stadt gestiegen ist. Wenig überraschend ist, daß nirgendwo sonst in Berlin die Bilanz der Einheit so positiv ausfiel wie in Hellersdorf. Dort zählen sich in einer Emnid-Umfrage 96 Prozent der Bewohner zu den Gewinnern der Enheit.
Berlin ist derzeit, das zeigen die Entwicklungen im Einzelhandel und auf dem Wohnungsmarkt, das Paradies von Otto Normalverbraucher. Es ist kaum zu erwarten, daß der Einfluß der Nachfrage in naher Zukunft kippen wird. Bis dahin wird die Nachfrage den Gesetzen des Marktes entsprechend jene, die ihr Leben gerade eben ohne staatliche Unterstützung bestreiten können, zu den Hauptprofiteuren der Einheit machen. Der letzte Teil am 3. Juli: Zweitausendundeine Hausaufgabe
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen