: Pasta, Pizza, eine Orgie
Mit der Lebensmittelkarte fing die kulinarische Karriere der Nachkriegsdeutschen an. Dann kam der Kartoffelboom, die Cocktailkirsche und irgendwann das erste Glas Prosecco. Heute lieben wir's am heimischen Herd eher mediterran und vor allem rucki, zucki. Der Deutsche liebt Bratwurst, Doppelwhopper und Spaghetti Carbonara. Teil XXII der Serie 50 Jahre neues Deutschland ■ von Manfred Kriener
Die Frage, wer die Küche der jungen Bundesrepublik am stärksten beeinflußt hat, ist leicht zu beantworten: der Hunger. Damit ist nicht der Appetit gemeint, der erwartungsvoll grummelnde Bauch, sondern der echte, der nackte Hunger, der noch Wassersuppe und Lebensmittelkarte kannte, die Gier nach Kalorien und Fett. Die Not der Nachkriegsjahre diktierte das Eßverhalten der fünfziger und sechziger Jahre: die Fett- und Fleischsucht, die Verklärung der „guten Butter“, den riesigen Kartoffelverbrauch.
Man hielt Kaninchen in mit Dachpappe abgedichteten Bretterverschlägen, und manche fütterten dort, wo heute der „Golf“ in der Garage steht, ein eigenes Schwein. Sonntags blubberten dicke Soßen, Gemüse versumpfte in schwerer Béchamelsoße, und Heinrich Böll ließ seine Helden den ewigen Kohlgeruch beklagen. Man trank „Lindes-Kaffee“, weil der echte zu teuer war, die Oma buk Hefeteig und Süßbrot. Obst und Schokolade waren rar, dafür stand die Maggiflasche immer auf dem Tisch, zog schicke Schlieren durch die Suppe. Morgens gab es „Kaba“ und selbstgemachte, donnersüße Dreifruchtmarmelade.
Die Weine waren genauso süß und funkelten urinfarben oxidiert. Vater trank Korn und Cognac mit zwei Sternen. Huhn und Hahn – sie kosteten in den Sechzigern genausoviel wie heute – waren ein sensationeller Festschmaus. Mutter schlachtete sie, verbrannte Zeitungen in großen Flammen, um die Federn abzusengen. Dann kam der Wohlstand, das Jägerschnitzel, die Cocktailkirsche, die Tiefkühltruhe. Eier wurden mit Fleischsalat und Mayo gefüllt, Käseblöcke in Miniquadrate zerschnitten und mit Trauben zu Partyigeln aufgespießt. Kinder verschenkten zum Muttertag pommestaugliche Friteusen, und in der Bowle schwammen Erdbeeren, Ananas und Möselchen.
Das Huhn war noch kein Turbohuhn und legte 80 statt 300 Eier. Das Schwein war noch kein wandelnder Kotelettstrang. Der Apfel schmeckte nicht nach Sägemehl, die Samstagsbrötchen knusperten appetitlich. Aber: Die Nudeln waren glitschig, die Soßen mehlig, Schalotte und Crème fraiche noch unbekannte Wesen.
So hätte das noch lange weitergehen können, wären die Deutschen nicht Urlaubsweltmeister geworden. Käfer rollten nach Spanien und Italien, und im Gegenzug erhielt der erste Gastarbeiter aus Sizilien ein Moped geschenkt. „Zwei kleine Italiener“ träumten von Napoli, und die Deutschen gingen ins Ristorante, schrien nach Soße, viel mehr Soße, wollten Beilagen statt Tintenfisch und soffen Lambrusco wie Kamele Wasser.
Knoblauch und Olivenöl, Spaghetti und Parmesan kamen über die Republik. Es war nicht unbedingt Liebe auf den ersten Blick. Aber es war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft und einer echten kulinarischen Revolution. Der Höhepunkt dieser Entwicklung ist noch lange nicht erreicht, zumal Heerscharen von Ernährungsberatern, Ärzten und Fernsehköchen die gesunde Mittelmeerkost mit missionarischem Eifer propagieren. Der gesundheitliche Schub mag umstritten sein, der genießerische ist Gewißheit.
Mit Pizza und Pasta hielt auch ein neues Lebensgefühl Einzug. Die ersten Deutschen trugen Sandalen ohne Söckchen, setzten sich mit Leinenhose ins Café, schwärmten im verregneten Castrop- Rauxel von Sonne und süßem Leben und begriffen, daß Essen nicht nur Reproduktion, Gesundheit und Arbeitskraft bedeutet, sondern Leben, Lust, Genuß.
Was zuerst an der fremden Küche auffiel: Der Salat wurde nicht wie zu Hause mit Zucker und saurer Sahne angemacht, sondern ganz seltsam mit Essig und Öl. Dann kamen noch Basilikumblätter rein, und das fand man ganz toll. Außerdem hieß das Schnitzel „Saltimbocca“ und schmeckte ganz anders. Und für die Kinder gab's die Orgie mit Tomatensoße und Nudeln, die zwei Meter aus dem Mund hingen. „Kochen mit Kindern“ war das letzte Kapitel im wichtigsten Kochbuch der siebziger Jahre. Eigentlich wollte Peter Fischer „die Geschichte des jungen Goethe“ zu Papier bringen, doch dann kochte er zu Hause für den Verleger. So erschien statt einer Goethe-Biographie das legendäre „Schlaraffenland – nimm's in die Hand“. 50.000 Exemplare hat Wagenbach verkauft. Es wurde zum Handwerkszeug für die kulinarischen Ausflüge einer ganzen Generation im heiteren Milieu der Nach-Hippie-Ära.
Man hat gern gegessen“, sagt Fischer, „aber keiner wußte, wie.“ Und weil man nicht so essen wollte wie die Alten, kochten die Jungen ihr eigenes Süppchen. Zum Beispiel ein provenzalisches mit vierzig Knoblauchzehen. Die aromatische Knolle geriet zur Protestaktion gegen die spießige Kleinfamilie. Spaghetti in allen Variationen wurden zum täglichen Stärkungsmittel von Anarchisten, Feministinnen, Anti-Atom-Kämpfern und Haschrebellen. Mit selbstgemachter Pizza konnte man selbst strengsten Weltverbesserern ein Lächeln abgewinnen.
Fischers Buch pflegte auch einen anderen Ton. Auf den Geschmack gebracht mit Zitaten von Engels und Brecht (“zu einem alten Wein oder einem neuen Gedanken konnte er nicht nein sagen“), wurde dem Leser vertraulich das Du angeboten: „Und nun, Genosse, röste Semmelbrösel!“ Unerschrocken empfahl der Autor genuesische Kutteln und Hammelnieren zu einer Zeit, als man in Deutschland die Innereien vom Metzger nachgeworfen bekam – „Geben Sie's Ihrem Hund!“ Fischer über seinen Erfolg: Es war „der Blick über die Alpen, eine andere Perspektive vom Leben, der Traum von der anderen Welt war immer dabei“. Heute lebt der Autor als Schriftsteller in Freiburg. „Die mediterrane Küche“, sagt er, „ist Teil des Lifestyles geworden, man hat einen Computer rumstehen, ein gutes Olivenöl und man muß mediterran sein.“ Doch in den meisten Gasthäusern „hat sich nichts geändert“. Auch da hat er recht.
Tatsächlich zeigt sich bei näherem Hinsehen, daß die Deutschen nur Teile der Mittelmeerküche in ihren Speiseplan aufgenommen haben. Zu allererst die italienische Nudel. Die innige Zuneigung ist amtlich: 55 Prozent der Westdeutschen und 33 Prozent der Ostdeutschen lassen die Mehlware mindestens einmal die Woche durch den Schlund rutschen. Die Fieberkurve zeigt unaufhaltsam nach oben. 1993 hatte sie mit 4,8 Kilogramm Pro-Kopf-Verbrauch gegenüber 1973 um volle 3 Pfund zugelegt. Inzwischen wurde auch die 5-Kilo-Grenze geknackt. Selbst der Skandal um Millionen bebrüteter Eier, die 1985 samt Küken, Blut und Hühnerkot zur Teigware verarbeitet worden waren, konnte die heiße Liebe nicht abkühlen.
Ebenso ist der Verbrauch von Pizza, Parmesan und Parmaschinken, von Schafskäse, Baguette und Kebab sowie von Weinen der Mittelmeerländer explodiert. Aber: Über die Hälfte aller deutschen Haushalte hat noch nie einen einzigen Tropfen Olivenöl verwendet. Und: Die Deutschen sind Fleischfresser geblieben, sie mögen immer noch keinen Fisch, sie essen – trotz leichter Besserung – zu wenig Gemüse. „Wir sind nach wie vor abhängig vom Schwein“, resümiert Wolfgang Lüder vom Potsdamer Institut für Ernährung.
Ganz aufs Rindvieh fixiert ist ein US- Konzern, der unsere Freßgewohnheiten mindestens genauso beeinflußt hat wie die mediterrane Revolution: McDonald's. 16 Jahre nach dem Start in den USA eröffnete der Burgerbräter in Deutschland die erste Filiale. So wurde 1971 zum kulinarischen Schicksalsjahr. Nach anfänglichem Zögern entwickelte sich die McDonaldisierung zur echten Epidemie, der Siegeszug des Fast food war nicht aufzuhalten.
Nach mehr als zwei Jahrzehnten heftiger Kritik am normierten, ungesunden Ekelfraß stehen die Fast-food-Ketten glänzend da, immun gegen Genuß, Geschmack und echte Geselligkeit jenseits der Fünf-Minuten-Abfütterung am Trog der Hamburgerautomaten. Die erschütternde Wahrheit: 638 Millionen besuchten vergangenes Jahr die 931 Filialen von McDonald's, 1,7 Millionen Gäste täglich. McDonald's veränderte auch unseren Rhythmus. Geregelte Mahlzeiten verschwanden, wir begannen rund um die Uhr zu essen. Und zu hungern: Atkins- und Brigitte-Diät, Heilfasten und „Friß die Hälfte“ sollten die Wohlstandsringe abfräsen. Vergeblich. Saumagen-Kanzler Kohl demonstrierte, wie man mit immer mehr Diät immer fetter wird.
Und heute? Die Imbißkultur boomt. Die mediterrane Lust wird zur Manie. Deutscher Weißwein, in seiner Spitze Weltklasse, bleibt bleiern im Regal stehen, italienische Pinot-Grigio-Plempe brummt, egal wie dürftig sie schmeckt. Parma- und Serranoschinken munden den Deutschen allemal besser als Schwarzwälder oder Holsteiner Exemplare. Rehgulasch verkauft sich so lange nicht, bis der Koch „Sugo vom Reh“ auf die Karte schreibt. Kürbissuppe ist ein Hänger, solange sie nicht „Pot au feu vom Hokaido“ heißt. Brot und Wurst aus heimischen Gefilden, in ihrer Vielfalt und Qualität einmalig, gelten wenig.
Aber schimpfen wir nicht. In der weltweiten Genießerbewegung von Slow food stehen die Deutschen mitgliedermäßig unter vierzig Ländern nach Italien auf Platz zwei. Und im Kochbuchkaufen sind sie sowieso die Champions. Wenn sie jetzt noch kapieren, daß Maultaschen, Sauerbraten und Maischolle genauso delikat sein können wie Ravioli, Carpaccio und Osso Bucco, wenn sie regionale Spezialitäten neu entdecken und zur Kenntnis nehmen, daß Europas beste Blutwurst – mehrfach mit dem „Prix d'Excellence“ ausgezeichnet – in Berlin gemacht wird, dann gibt's doch noch ein Happy-End in der Bratpfanne.
Manfred Kriener, 45, Seit einigen Jahren mixt er Ökologie und Wissenschaft mit Hechtklöschen und Rieslingsorbet. Lebt in Berlin.
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