: Knastlösung auf Anhaltinisch
Urteil erzeugt bundesweites Aufsehen: Statt ins Gefängnis schickt Hallenser Richterin Drogenabhängige wegen fehlender Suchtbetreuung nach Hause ■ Von Nick Reimer
Berlin (taz) – Genaugenommen hat es eine verurteilte Drogenabhängige dem Sachsen-Anhaltinischen Justizministerium zu verdanken, daß sie nicht in den Knast muß. Statt Haft setzte die Hallenser Jugendrichterin Annett Noatnick die beantragte Strafe zur Bewährung aus – die 20jährige finanzierte ihre Sucht mit Raub und Erpressung. Noatnicks Begründung: Der soziale Dienst für Suchtbetreuung und Therapievermittlung im Hallenser Knast sei unzureichend. „Ich bin nicht bereit, das länger zu akzeptieren“, so Noatnick.
Bislang engagierte sich die Hallenser Drogenberatungsstelle in den drei Haftanstalten der Stadt. „Wir schaffen das aber mit unserer dünnen Personaldecke nicht mehr“, sagt Berater Bernd Kukielka. Mit dreieinhalb Stellen betreuen die Drogenberater 700 Klienten, davon knapp hundert im Knast. „Die Zahl der Drogenabhängigen ist in den letzten Jahren sehr stark angestiegen, unsere Personaldecke aber gleich geblieben“, so Kukielka. Schon vor anderthalb Jahren schrieb deshalb die Drogenberatung an das Justizministerium: Wir brauchen für die Knastarbeit dringend eine Stelle. Kukielka: „Auf eine konkrete Antwort warten wir noch heute.“
500 Beratungsstunden leistete er mit seinen Kollegen 1998 im Knast, weit über 1.000 Stunden Nachbereitung – Ämtergänge, Therapievermittlungen, Finanzierungsverhandlungen mit den Krankenkassen – kommen dazu. Weil keine Kooperation mit dem Justizministerium in Sicht, die Arbeit nach Kukielka „nicht mehr zu leisten“ ist, beendete die Drogenberatungsstelle am 1. Juli ihr Engagement in Halles Knästen.
Richterin Noatnicks Urteil sorgt bundesweit für Aufsehen. Der Vorsitzende des Deutschen Richterbundes, Rainer Voss, erklärte, daß die Überlastung im Strafvollzug zunehmend zum Problem werde. Noatnicks Urteil sei die krasseste Konsequenz. Den derzeitigen Bedingungen im Strafvollzug könne nur mit dem Bau von neuen Gefängnissen begegnet werden. „Das ist aber vor allem ein finanzielles Problem“, so Voß. Sein Stellvertreter, Wolfgang Schröder, rechnete vor, daß sich die Belegungszahlen in den deutschen Knästen innerhalb von sechs Jahren um mehr als 30 Prozent auf 73.000 Gefangene erhöht hat – „und zwar auf dem gleichen Raum untergebracht“.
Und dann beging am Dienstag auch noch eine 56jährige Gefangene in der Frauenabteilung der JVA Halle Selbstmord. Schon der zweite Fall in diesem Monat: Eine 20jährige hatte sich Anfang Juli in der Jugendhaftanstalt das Leben genommen.
Eilig war Sachsen-Anhalts Justiz-Staatssekretärin Mathilde Diederich gestern nach Halle gekommen, um Journalisten die Tore der JVA zu öffnen. Die Situation in der Anstalt sei „sehr entspannt“, die Gefangenen fühlten sich wohl – natürlich den Umständen hinter Gittern entsprechend, erklärte Ministeriumssprecherin Marion van der Kraats. Nein, so schlecht seien die Haftbedingungen gar nicht. Der neugebaute Trakt entspräche modernsten Gesichtspunkten, so van der Kraats, die medizinische Betreuung sei nahezu beispielhaft.
Daß dem nicht unbedingt so ist, macht die Hektik im Ministerium deutlich. Mit Spannung war gestern ein ähnlich gelagerter Prozeß wie der der 20jährigen Drogenabhängigen erwartet worden. Richterin war erneut Annett Noatnick. Van der Kraats beeilte sich zu versichern, Fördermittel des Landes nach Halle umzuschichten, um den Konflikt mit der Drogenberatungsstelle zu entschärfen. Bislang sei bei der Verteilung der Gelder nicht darauf geachtet worden, daß es in Halle ja drei Gefängnisse gibt – das Drogenproblem deshalb hier landesweit am größten sei. Außerdem sollen im kommenden Jahr 28 Justizbedienstete an den sieben Gefängnissen des Landes neu eingestellt werden, die speziell für die Suchtberatung geschult werden.
Berater Kukielka bezweifelt, daß das etwas bringt. „Als Justizangestellte sind die Leute gegenüber den Gefangenen weisungsberechtigt. Das schafft kein Vertrauen.“ Aber das Ministerium kann das jetzt noch überdenken: Weil ein Zeuge gestern nicht zur Verhandlung erschien, platze der zweite Noatnick-Prozeß.
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