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KommentarUnter Generalverdacht

■ Hartes Urteil gegen 1.-Mai-Demonstrantin

Das Landgericht Berlin hat gnadenlose Kulturkritik geübt: Zwölf Monate Haft, zur Bewährung ausgesetzt, lautet das Urteil gegen die Demonstrantin Nuran A., der in Tateinheit mit dem Rufen von Parolen das Abspielen eines Stückes mit dem Text „Deutschland muss sterben“ vorgeworfen wurde.

Man muss die Aussage des Textes nicht teilen, um die Entscheidung der Justiz mehr als bedenklich zu finden. Jede Auseinandersetzung mit dem Nachleben des Nationalsozialismus in der neuen Bundeshauptstadt, die einst die alte Reichshauptstadt war, steht künftig unter Generalverdacht. Die Botschaft lautet: Wer deutsche Traditionen, auf denen auch der Nationalsozialismus gründete, verunglimpft, der verunglimpft auch die Bundesrepublik.

Diese Argumentation ist schädlich, übersieht sie doch, dass die Bundesrepublik als demokratischer Staat nur auf den Trümmern des Dritten Reiches gegründet werden konnte, dessen Vergangenheit freilich bis weit in die Gegenwart hineinreicht. Auch der Hintergrund des Stückes hätte zur Erhellung beitragen können: Der Text bezieht sich auf ein Denkmal in Hamburg, erbaut während des Nationalsozialimus. Die Inschrift „Deutschland muss leben, und wenn wir sterben müssen“ erinnert an den Heldentod deutscher Soldaten – und dieser zählt nun mal nicht zu den im Grundgesetz niedergeschriebenen Grundrechten.

Hinzu kommt die fragwürdige Vorgeschichte des Urteils. Obwohl die Vorwürfe nicht schwer wogen, saß die Angeklagte, die einen festen Wohnsitz und eine Anstellung vorweisen konnte, über drei Monate in Untersuchungshaft. Da die Angeklagte als Aktivistin einer maoistischen Gruppe kurz vor ihrer Festnahme an einer öffentlichen Diskussion mit Vertretern der Polizei teilnahm, mutet der Vorwurf der Fluchtgefahr aus der Luft gegriffen an. Vielmehr ist die Strafe dem Urteil vorweggenommen worden: Jeder Tag, den Nuren A. in Untersuchungshaft verbracht hat, geht über das auf Bewährung verhängte Strafmaß hinaus. Nuran A.s Unterstützer nannten den Prozess ein „Musterbeispiel für Justizwillkür“. Der Beweis des Gegenteiles ist dem Landgericht eindeutig misslungen. Andreas Spannbauer

Bericht Seite 20

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